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322 - Götterdämmerung

322 - Götterdämmerung

Titel: 322 - Götterdämmerung
Autoren: Mia Zorn
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weiteren Schlitten wartete Efsturs Freund und Kampfgefährte, der Schmied Snorri, auf das Signal zum Aufbruch. Glymjandi fehlte. Man hatte das ganze Dorf vergeblich nach ihm abgesucht. Verwunderlich war das nicht. Der Zwerg trieb sich oft über Nacht im Fjellwald oder den Bergen herum.
    Doch heute bedauerte Efstur das Ausbleiben des Kleinwüchsigen, hatte er doch gehofft, dass dessen Anwesenheit die alte Widda milder stimmen würde. Vor vielen Wintern hatte sie Glymjandi im Wald gefunden und als Findelkind nach Jotunheimen gebracht. Auch wenn sie es nicht zugab, hatte sie einen Narren an dem Zwerg gefressen. Nun musste Efstur sich eben ohne diesen Trumpf der alten Hexe stellen. Missmutig glitt sein Blick über die Menge bei den offenen Dorftoren.
    Als zöge ihr Häuptling in eine große Schlacht, hatten sich alle Jotunheimener dort eingefunden, ihn zu verabschieden. Schweigend richteten sie ihre Blicke auf die kleine Reisegemeinschaft. Keinen Laut gaben sie von sich. Nur das Heulen des Windes war zu hören und das Bellen der Hunde. Dann hob Efstur seine Hand. Als Antwort erklangen ein Horn und der Ruf sämtlicher Dorfbewohner: »Odin sei mit dir!«
    ***
    Fjellwald
    Mit dem einbrechenden Abend fiel der Schnee so dicht, dass man die Hand nicht mehr vor den Augen sehen konnte. Das Geäst der Bäume ächzte unter der Schneelast und dem zunehmenden Nordwind. Ein Vielfraß streifte durch das Unterholz des Fjellwaldes. Auf der Suche nach Nahrung folgte er dem Aasgeruch, der seit einiger Zeit sein Riechorgan reizte. Der verlockende Duft führte ihn zu einer Eiche, aus deren knorrigem Stamm ein merkwürdiges Gebilde aus Grassoden, Torf und Holztrümmern ragte.
    Das zottelige Gebirgstier hob die Nase und spitzte die Ohren. Seltsame Geräusche drangen aus dem Inneren des Gebildes und die scharfen Ausdünstungen von Nackthäuten und Raubkatze überlagerten den Aasduft. Einen Augenblick lang duckte sich der Vielfraß lauernd in den Schnee. Dann nahm er mit gesträubtem Nackenhaar und gestreckter Rute Reißaus. Und er tat gut daran. Denn nur einen Atemzug später stob ein Fjelfress aus einer verborgenen Öffnung des Eichenverschlages. Fauchend nahm das Raubtier die Verfolgung auf.
    »Pack es, mein Kleiner. Bring es der alten Widda!«, schnarrte die Seherin aus dem Inneren der Behausung ihrem Bergkater nach. Die Aussicht auf einen köstlichen Braten zauberte ein Lächeln in das faltige Gesicht der Alten. Umgeben von Tiegeln, Schüsseln und unzähligen kleinen und großen Amphoren hockte sie auf einem warmen Fell im Mittelteil ihrer Waldklause. Vor ihren Knien prasselte ein Feuer und in ihrem Rücken, dort wo die Kate in den ausgehöhlten Eichenstamm mündete, schnarchte der schlafende Glymjandi.
    Schon seit dem Vormittag war Widda guter Stimmung. Die Götter waren ihr wohl gesonnen. Mit glühenden Wangen dachte sie an das vergangene Beben und welche Schrecken es vermutlich unter den Bewohnern von Jotunheimen ausgelöst hatte. Das Beste aber folgte am Nachmittag, als plötzlich der Kleinwüchsige völlig außer sich bei ihr auftauchte. Sein anfängliches Gestammel hatte sie fast zur Weißglut gebracht. Doch einige Stockhiebe später zwitscherte Glymjandi wie ein Vögelchen.
    Die Gedanken an seinen Bericht jagten ihr immer noch Schauer ehrfurchtsvollen Staunens über den Rücken. Fremde aus dem Nichts... und eine Schlange in Menschengestalt. Sollte es sich tatsächlich um die boshafte Midgardschlange Jörmungandr handeln? Was auch immer der Zwerg beim Feuertor beobachtet hatte: Es war nicht von dieser Welt! Nachdem der erschöpfte Glymjandi ihr alles erzählt hatte, hielt die Seherin ihn davon ab, ins Dorf zurückzukehren. Sie belohnte ihn mit einem warmen Süppchen, überhäufte ihn mit Lob, bettete ihn schließlich auf ihr Lager im Eichenstamm und erzählte ihm Geschichten.
    Als »ihr Junge«, wie sie den Kleinwüchsigen insgeheim nannte, endlich eingeschlafen war, wäre sie am liebsten selbst zum Feuertor aufgebrochen, um sich die Ankömmlinge anzusehen. Doch das Wetter und die Lawinenabgänge, die bis hinunter zum Wald zu hören gewesen waren, machten ein solches Vorhaben unmöglich. Stattdessen hatte sich die Alte vor ihrem Opferstein niedergelassen, die Göttin Nerthus angerufen und bis in den späten Nachmittag hinein orakelt. Dabei hatte sie genug Erklärungen gesammelt, um damit die Jotunheimener einen Sonnenkreis lang zu beschäftigen.
    »Da nützen euch die Künste des Götländers nichts«, kicherte sie jetzt vergnügt
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