Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
322 - Götterdämmerung

322 - Götterdämmerung

Titel: 322 - Götterdämmerung
Autoren: Mia Zorn
Vom Netzwerk:
Vorhaben. »Aufstieg ist gefährlich«, schnaufte er. »Glymjandi muss aufpassen.« Unwillkürlich dachte er an Widda und ihren Stock. Die alte Seherin war ihm in der vergangenen Nacht im Traum erschienen und hatte ihn aufgefordert, am Feuertor zu wachen. Sie würde ihn grün und blau schlagen, wenn er betrunken die heilige Stätte betrat. Wieder blickte sich der kleinwüchsige Mann verstohlen um. »Glymjandi gehorcht. Braver Glymjandi«, beteuerte er.
    Inzwischen hatte er das Plateau hinter sich gelassen und krabbelte auf allen vieren eine verharschte Anhöhe hinauf. Obwohl seine mit Fellstreifen umwickelten Stiefel ihm Halt gaben, benutzte er die Hände. So wie er es bei den Schneefüchsen beobachtet hatte, bewegte er sich im Zickzack zügig den steilen Hang nach oben. Dabei stieß er kehlige Laute des Vergnügens aus.
    Auf dem Kamm des Bergrückens angekommen, schob er sich die viel zu große Pelzkappe aus dem Gesicht. Unter ihm klaffte die trichterförmige Schlucht, die in den Gletscher mündete.
    Seine Wangen glühten und die Augen leuchteten, während sein Blick über die Umgebung glitt. Links und rechts von ihm ragten kuppelförmige Felsformationen aus dem Kamm. Ymirs Schultern wurden sie genannt. Ausläufer von den zerklüfteten Bergmassiven, die sich hinter den Kuppeln in den Himmel erhoben und den Gletscher halbkreisförmig umschlossen.
    Der Kleinwüchsige blickte über seine Stiefelspitzen. Annähernd zwanzig Fuß ging es abwärts. Mehr als einmal war er an dieser Stelle mit seinem Schneebrett den Hang hinunter gerutscht, durch die schmale Schlucht gewandert und dann über den Gletscher zur Feuerpforte spaziert. Er kannte jede Spalte, jedes Loch der Eismassen, die sich nach Osten hin ins Tal ergossen.
    Doch heute war er nicht auf eigene Faust hier, sondern im Auftrag der Seherin. Also musste er den heiligen Pfad nehmen und die vorgeschriebenen Rituale einhalten. Widdas Rituale! Er hasste sie.
    »Braver Glymjandi«, knurrte er und stapfte missmutig zu Ymirs linker Schulter. Dort kletterte er in die Felsen. Er kraxelte und hangelte sich über unzähligen Steinnasen höher und höher, bis er schließlich die schmale Felsspalte erreichte, die in das Innere des Kuppelmassivs führte. Davor blieb er keuchend stehen.
    »Heiligerpfad, Widdasdienerbegehrteinlass. Göttersindmitihm.« Während Glymjandi den Ritualspruch herunterleierte, als habe er zu heißen Getreidebrei im Mund, entledigte er sich seiner Handschuhe und öffnete den Mantel.
    Aus der Brusttasche darunter kramte er umständlich einen Dolch, ein Stück Holzkohle und ein dreckiges Lumpensäckchen. Letzteres entfaltete er sorgsam auf einem Felsvorsprung. Es enthielt einen kleinen toten Vogel. Glymjandi traten Tränen in die Augen, während er das Tier am Kopf hochhob und ihm die Kehle mit dem Dolch aufschlitzte. Mit ausgestrecktem Arm hielt er den Kadaver über den Boden vor dem Eingang der Felsspalte.
    »Heiligerpfad. Widdasdienerbegehrteinlass. Göttersindmitihm«, jammerte er und sah zu, wie das Blut herabtropfte und den Schnee langsam rot färbte. Dann legte er das Vögelchen wieder auf den Lumpen. »Armer Lufttümmler, armer.« Grimmig blickte Glymjandi von der Tierleiche zur Felsspalte. Er hatte nie begriffen, warum ein Blutopfer nötig war, um den heiligen Pfad zu betreten. Doch er wagte auch nicht, es zu unterlassen.
    »Nur ein Narr betritt ohne das Opfer den Pfad«, pflegte die alte Widda stets zu drohen, wenn Glymjandi sie nach dem Grund fragte. »Es sei denn, er will den Bewohnern der Unterwelt sein eigenes Blut überlassen.«
    Bei dem Gedanken daran grauste es Glymjandi. Rasch zeichnete er sich in jede Handfläche eine Rune zum Schutz vor der Göttin Hel und ihrem Blut saufenden Gefolge. Dann verbeugte er sich in alle vier Himmelsrichtungen. »Heiliger Pfad. Widdas Diener begehrt Einlass. Die Götter sind mit ihm.« Diesmal sprach er langsam, deutlich und lauter als nötig. Schließlich schlüpfte er durch die schmale Spalte. Modrige Luft schlug ihm entgegen und diffuses Licht umgab ihn. Glymjandi raffte die Mantelschöße. Je schneller er die Stätte erreichte, desto besser.
    Der Lärm seiner Stiefel hallte von den Wänden wider, während er rannte. Ab und zu streifte ihn der Luftzug aufstiebender Fledermäuse. Jedenfalls hoffte Glymjandi, dass es welche waren. Irgendwann stieg der Felsengang an und kurz darauf kam der Kleinwüchsige nur noch kletternd voran. Nach einer scheinbaren Ewigkeit erreichte er endlich die Felsenstufen, die zur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher