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306 - Ein Hort des Wissens

306 - Ein Hort des Wissens

Titel: 306 - Ein Hort des Wissens
Autoren: Jo Zybell
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Chan tippte auf »noch schlimmer« – auf Verrat.
    Auf den Pfaden zwischen Linde und Ruine lagen noch Schneereste hie und da, erste milde Südwinde wehten, die Linde schlug gerade aus, und der Schwarzbart hieß natürlich nicht wirklich Jesus. Sein Name lautete Varmer. Eine ganze Nacht lang hatte Meister Chan die Personalakte des Mannes studiert und in der Woche danach elf Männer befragt, die schon mit Varmer zusammengearbeitet hatten.
    Nicht schlecht, was er da gelesen, besser noch sogar, was er gehört hatte über den Schwarzbart. Konnte schon sein, dass Varmer der Richtige war, um die Truppe der Exekutoren zu führen und gewissenhaft zu erledigen, was immer man ihm auftrug. Allerdings war er nicht der Einzige, dessen Personalakte Meister Chan sich von Bruder Zing hatte bringen lassen.
    Er musste sich entscheiden, und die Entscheidung musste rasch getroffen werden.
    Zuerst aber wollte Chan den Schwarzbart noch ihm Einsatz sehen – als Kämpfer und als Kommandeur. Deswegen hatte der Reenscha sich hierher auf diese Linde, in dieses Baumhaus bemüht. Da lag er nun in seiner goldenen Lächelmaske und mit seinem dunkelblauen, von Goldfäden durchwirkten Umhang und hielt den Feldstecher vor die Sehschlitze.
    Die schwachsinnigen Tänzer auf dem Flachdach der ehemaligen Klinik interessierten ihn einen Dreck. Einer von ihnen trug übrigens eine Wakudamaske, die anderen hatten sich Herbstlaub um Oberkörper, Arme und Kopf gebunden. So sprangen sie auf dem Dach herum wie die Lords von London, wenn sie besoffen waren.
    Wie Narren eben.
    Varmer packte den nächsten Exekutor zog ihn zur Leiter, schob ihn hinauf. Dann den dritten, den vierten. Die Männer verteilten sich auf dem Mauersims knapp unterhalb des Daches, warteten auf den Befehl zum Angriff. Und die Rebellen tanzten. Vielleicht waren es dreißig, eher mehr.
    Diese Narren – nur sie selbst nannten sich »Rebellen« – hatten eine Sekte gegründet, die sich die Liebe zur Natur und zu den Tieren auf die Fahnen geschrieben hatte. Nun gut: in ihre Hirnwindungen; Fahnen hatten sie nicht, verabscheuten sie sogar. Genau wie Waffen, Festungen, Funkgeräte und alles, was mit Technik zusammenhing. Sie mochten auch die Exekutoren nicht. Und folglich auch die Reenschas nicht, die sie doch nur vom Hörensagen kannten.
    Kein Wunder, denn Meister Chan zeigte sich für gewöhnlich nur seinen vier Leibgardisten und seinem Chefexekutor. Selten kam es vor, dass er die Katakomben von Eibrex verließ, sehr selten. Und wann in seinem langen Leben war er eigentlich zuletzt auf einen Baum geklettert? Verdammt lang her jedenfalls.
    Um es kurz zu machen: Er hätte diese Rebellen tanzen lassen können bis zum Jüngsten Tag. Er hätte sie ihre drollige Überzeugung verkünden und leben lassen können. Doch er brauchte eine Gelegenheit, Varmer in Aktion zu sehen. Möglichst zeitnah, denn das Ausbleiben seines Chefexekutors Alastar und des Albinos Rulfan, den er hatte kontaktieren sollen, beunruhigte ihn ernsthaft. Also hatte Meister Chan Befehl gegeben, die Narren auszukundschaften und das Datum ihrer nächsten Zusammenkunft in Erfahrung zu bringen.
    Der Schwarzbart hatte das in kürzester Zeit erledigt – oder erledigen lassen –, und nun sollte er dem lächerlichen Spuk ein Ende setzen. Ein blutiges Ende.
    Der Schwarzbart in der pelzbesetzten Kutte kletterte als Letzter die Feuerleiter hinauf. Meister Chan staunte, wie geschmeidig er sich bewegte. Flink wie eine Katze huschte er zum Mauersims hinauf, und das bei diesen wuchtigen Körpermaßen und mit diesem gewaltigen Rauschebart. Alle Achtung!
    Kaum einen Atemzug lang kniete Varmer auf dem Mauersims nieder. Ein Handzeichen nach links, eine Geste nach rechts, und schon schwang er sich aufs Dach. Dort verlor er kein Wort – jedenfalls hörte Meister Chan keines –, sondern riss sein Schwert aus der Rückenscheide und fuhr unter die närrischen Rebellentänzer wie Steinschlag und Eisenhagel.
    Schon knieten die fünf anderen Exekutoren hinter ihm am Dachrand. Ihre Gewehre bellten, spuckten Feuerzungen und Blei. Sie zielten nach rechts und links auf die fliehenden Narren. Zwei nahmen wohl ausschließlich die Umgebung der Dachluke unter Beschuss, denn dort häuften sich schon nach kürzester Zeit die meisten zuckenden oder reglosen Körper.
    Varmer aber stand breitbeinig zwischen knienden, halb liegenden und um Gnade flehenden Männern und Frauen und schlug wieder und wieder zu. Sein Schwert und seine Arme waren wie Windmühlenflügel.
    Nach
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