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30 - Auf fremden Pfaden

30 - Auf fremden Pfaden

Titel: 30 - Auf fremden Pfaden
Autoren: Karl May
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ein Mann zu dieser Zeit hier zu suchen!“
    „Du bist ja wohl der einzige, der in dieser Gegend wohnt?“
    „Ja. Sollte es ein Mann sein, der auf dem Aitoi (Dativ von Aito, ein Weg, den man geht, um seine Wohnung zu verändern) geht?“
    „Das glaube ich nicht, Er würde uns den Gruß nicht verweigert haben. Er ist geflohen, sein Weg muß also ein Weg des Unrechts sein.“
    „Herr, meinest du dies wirklich?“
    „Ja.“
    „So muß man ihm folgen!“
    Diese Worte waren in einem hastigen, sorgenvollen Ton gesprochen, den ich mir nicht gleich erklären konnte. Darum fragte ich:
    „Denkst du, daß es ein Rentiermörder ist?“
    „Nein, ich denke etwas anderes, Wäljam (mein Bruder). Ich muß sehen, wer es ist. Folgt ihr unterdessen dem Bären!“
    „Du darfst nicht allein gehen!“ warnte sein Sohn Neete.
    „Was weißt du, Knabe! Geht! Ich brauche keine Menschen, welcher bei mir bleibt!“
    Diese Worte waren in einem so befehlenden Ton gesprochen, daß wir ihnen ohne Widerrede gehorchten. Es war sicher nicht ohne Gefahr, sich hier im Wald und bei diesem Schnee mit einem Fremden zu befassen, der sich so verdächtig benommen hatte. Er mußte einen ganz besonderen Grund haben, allein zu bleiben, wo eine Begleitung doch so notwendig erschien. Wir ließen ihn gehen und verfolgten die Fährte des Bären weiter. Unsere Anstrengung sollte sehr bald belohnt werden. Die Spur führte bereits in kurzer Zeit nach einem freien Plätzchen, welches von Steingewirr bedeckt war. Hier lag das Tier versteckt, denn als wir den Ort umgingen, fanden wir nicht, daß die Fährte wieder herausführte.
    Die Hunde waren bis jetzt bei uns gewesen, jeder mittels einer Schnur an seinen Herrn gebunden. Nun aber, als wir den Platz umstellt hatten, wurden sie losgelassen. Sie schossen zwischen die Steine hinein und bald vernahm ich neben ihrem wütenden Gebell ein tiefes und unmutiges Brummen. Der Lärm stand einige Zeit lang still und bewegte sich dann nach der mir entgegengesetzten Seite. Der Hund des Lappen benimmt sich, während er dem Wolf sofort nach der Kehle geht, dem Bären gegenüber vorsichtig; er lockt ihn aus dem Lager, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben, und so war auch heute nicht zu hören, daß einer unserer Hunde einen Schlag erhielt. Dagegen aber fiel sehr bald darauf ein Schuß und gleich darauf ein zweiter. Dann erhob sich von seiten der Meute ein triumphierendes Geheul, dem man sofort anmerkte, daß der Bär erlegt worden sei.
    „Neete, ist er tot?“ rief Anda, welcher rechts von mir postiert worden war, über die Lichtung hinüber.
    „Mije lepe winsam – wir haben gesiegt!“ antwortete der Gefragte herüber. „Wiesodake le tarfok – der Bär ist tot. Kommt zu uns, Kratnatjeh (Kameraden)!“
    Wir eilten dem Rufenden zu; der Bär lag leblos am Boden. Der junge Neete hatte ihn bis auf zwei Schritte auf sich herankommen lassen, ihm dann den Lauf seines Doppelgewehres in den geöffneten Rachen gesteckt und zweimal losgedrückt.
    „Er hat es gewußt, daß das Kalb mir gehört, welches er gefressen hat“, meinte er sehr gleichmütig, „und darum ist er zu mir gekommen, um sich von mir töten zu lassen.“
    Bei den Lappen hat nämlich jedes Familienmitglied seine eigenen Tiere bei der Herde, und für diese auch sein eigenes, bestimmtes Zeichen. Bereits bei der Geburt schenkt der Vater dem Kind ein Rentier; bei der Taufe erhält es ein zweites; wer den ersten Zahn bei ihm entdeckt, muß ihm ein drittes schenken. Auch das Gesinde erhält seinen Lohn und seine Extrageschenke in Rentieren, weshalb ein Knecht, der eine Magd heiratet und seine Tiere mit den ihrigen vereinigt, sehr leicht eine Herde zusammenbringt, die ihn zum selbständigen Mann macht. Daher gibt es eine eigentliche Armut bei den Lappen nicht, außer wenn einer durch die Seuche oder einen schneelosen Frost seine Herde verliert. In diesem letzteren Fall können die Tiere das Moos, welches ihre Winternahrung bildet, nicht von dem harten Eis befreien und müssen vor Hunger und Elend zugrunde gehen.
    „Sotn le änak – es ist ein Männchen“, sagte der Onkel. „Zieht ihm das Fell ab, und schneidet ihn in Stücke, damit wir ihn leichter tragen können. Rupmaha le mijit, katjeh mije wattepe – der Leib gehört uns, die Tatzen geben – – –“
    Er hielt mitten im Satze inne; meine Anwesenheit schien ihn an der Vollendung seiner Rede zu verhindern. Ich ahnte den Grund davon. Die Lappen sind zum großen Teil Christen, haben aber aus ihrer
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