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289 - Circus des Schreckens

289 - Circus des Schreckens

Titel: 289 - Circus des Schreckens
Autoren: Jana Paradigi
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doch das genaue Gegenteil von dem, was er der Menschheit schenken wollte: Freude. Glück. Unbeschwertheit.
    Geboren war er 1924, in der Zeit der iranischen Sowjetrepublik, als noch ein Schah das Oberhaupt des Landes war und Großbritannien und Irland um die Vorherrschaft im beginnenden Ölkrieg rangen. Damals musste man keine Angst vor Fundamentalisten haben oder noch vor dem Erwachsenenalter mit einem Maschinengewehr umzugehen lernen. Seine Jugend war vergleichsweise ruhig und behütet gewesen. Statt Sammelkarten von gesuchten politischen Verbrechern zu tauschen, widmete er sein Interesse ganz und gar dem Traditionssport Varzesh-e Bastani.
    Ausländer hatten es oft als bloße Hantelschwingübung betrachtet, bei der die einzige Schwierigkeit das Gewicht der bis zu vierzig Kilo schweren Keulen darstellte. Doch dieses Wettkampfritual bedeutete viel mehr. Die Kämpfer wollten damit die Reinheit ihres Herzens beweisen. Man dankte und lobpreiste den Propheten oder trug zumindest die Werte alter iranischer Mythologie weiter, wenn man sich dem Publikum vorstellte. Erst dann begannen die eigentlichen Übungen, der Drehtanz und das Stemmen von Gewichten.
    Da, wo andere an den schweren Hanteln ihre Grenze fanden, machte Khalil sich erst warm. Bereits mit dreißig Jahren nannte er sich in diesem Sport Morsched - Meister. Statt der üblichen Schildplatten von maximal hundertzwanzig Kilo hob er mehr als das Dreifache und das allein mit seinen Zähnen.
    Wie besonders er wirklich damit war, realisierte er erst, als die Herren und Damen vom Guinness-Buch der Rekorde bei ihm auftauchten, ihn begutachteten und sein Name Eingang in dieses populäre Werk fand. Ein bisschen Berühmtheit über seinen Heimatort hinaus. Und so sollte es weitergehen.
    Er reiste durch den ganzen Iran mit seiner selbst erdachten Show und ließ sich immer neue spektakuläre Demonstrationen einfallen. Das Verbiegen von Eisenstäben, sein Körper als Brücke für Autos, Lkw, ja sogar Busse, und immer wieder das Heben von unglaublichen Gewichten. Man bat ihn zu Gastauftritten in Fernsehfilmen und bannte seine Kunst auf Zelluloid. Und dann kam der Zirkus.
    Als er die Einladung erhielt, sich der fahrenden Truppe anzuschließen und nach Irland zu kommen, wusste er sofort, dass das sein restliches Leben bestimmen würde. Vierzig Jahre lang.
    Khalil rieb sich den nackten Fuß an der dünnen, schon etwas zerschlissenen Kostümhose ab und schmunzelte, als die Clowns sich tollpatschig und stolpernd gegenseitig durch die Arena jagten und das Publikum Tränen lachte. Er war mit vielen Zirkussen gereist, hatte viele Länder mit Menschen vieler Mentalitäten gesehen. Aber in diesen Momenten waren sie alle gleich. Wenn sie alles andere um sich herum vergessen hatten, ob Diktatur oder Wirtschaftskrise, Hungersnot oder Staatenstreit. Wenn die Menschen lachten, waren sie alle gleich, egal welchem Volk sie angehörten.
    »Träumst du im Stehen?«, erklang es von rechts.
    Khalil wandte sich dem jungen, kurzgeschorenen Mann in seiner Arbeitskluft zu. »Aye, ich träume, Baran. Und vielleicht ist es an der Zeit, ein Stück meines Traumes Wirklichkeit werden zu lassen.«
    Sein Gehilfe verengte die Augen und zog die Stirn kraus, wohl bei dem Versuch, Khalils Gedanken zu erraten. Doch Einfühlungsvermögen war noch nie seine Stärke gewesen.
    »Ich kann dir von Lissi 'ne neue Hose schneidern lassen, wenn dir die jetzige nicht mehr gefällt«, sagte er schließlich. »Oder ist es wegen der Show? Sollen wir die Gewichte ändern? Irgendwas Spannenderes statt langweiliger Eisenkugeln?«
    »Eiserne Jungfrauen vielleicht?« Khalil lachte herzlich und rieb sich mit seinen großen schwieligen Händen den Bauch. »Nein, Baran, nein. Selbst du wirst es mitbekommen haben, das Gerede um den Kometen. Die düsteren Prophezeiungen vom Ende der Welt.«
    »Willst in einem der Bunker unterkommen? Soll ich rumtelefonieren?«
    Draußen in der Arena erklang tosender Applaus und Sekunden darauf kamen die Rotnasen durch den Vorhang, zogen ihre Hüte mit den Riesenblumen ab und latschten in ihren überdimensionierten Schuhen an Khalil und Baran vorbei.
    »Wir dürfen uns nicht verstecken, Freund«, fuhr Khalil fort. »Wir werden im Gegenteil ausziehen und für unser Publikum kämpfen. Auf unsere Weise. Wir werden zurück in den Iran gehen und dort einen ganz besonderen Zirkus eröffnen. Den Zirkus der Hoffnung.« Mit diesen Worten griff er nach dem Samtvorhang, wartete ab, bis der Direktor mit einem
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