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289 - Circus des Schreckens

289 - Circus des Schreckens

Titel: 289 - Circus des Schreckens
Autoren: Jana Paradigi
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mit Maß und Geschick einzusetzen.
    Du lerntest die Menschen zu durchschauen, statt sie nur zu wittern, so wie es deine Brüder und Schwestern taten. Du konntest ihre Gedanken lesen, weil du den Teil Mensch in dir zugelassen hast, konntest erkennen, was sie mit den Knüppeln und Netzen vorhatten. Menschen, die genauso gezeichnet von der langen Dunkelheit und dem nur langsam zurückweichenden Eis waren wie auch die Lupas.
     
    Kalt. Es ist so kalt.
    Der Körper gerade ausgewachsen, mit Kratzern, Striemen und Bisswunden übersät. Die Haare lang und verfilzt.
    Die Fingernägel dreckig und hornig verwachsen. So kauerst du zwischen den schlafenden Leibern, drängst dich dicht an das struppige Fell und kannst doch nicht aufhören zu zittern, in der Nacht, als die Eiszeit wiederzukehren scheint. Deine Zehen werden taub, die Lippen sind längst aufgesprungen. Und obwohl ihr gemeinsam in der schützenden Berghöhle schlaft, zieht sich eine dünne Schicht glitzernder Kristalle über deinen Rücken, die Hüfte hinab und bedeckt deine steif gefrorenen Beine.
    Und als der Morgen sich anschickt, die Welt erneut zu wecken, wird mit dem Hellerwerden des Tages dein Zähneklappern leiser, weicht zusammen mit den Schmerzen einer seligen Ruhe und Geborgenheit im immerwährenden Dunkel, das sich auf deinen Geist legt und dich mit sich fortnimmt.
    ***
    Italien, 20. November 2011
    Der Herbst zeigte sich in ungewöhnlich eisiger Pracht. Eisblumen zierten im Halbdunkel des hereinbrechenden Abends den letzten Rest brauner Blätter, der sich in den Rinnsteinen gesammelt hatte. Ein paar in Schal und Mantel gehüllte Menschen eilten die Straßen des kleinen aber feinen Vororts von Genua entlang. Und dort, wo sonst zu dieser Zeit die Grashalme zwischen den Steinen am Fuß des Monte Fasce noch spärlich ihre Köpfe in den Himmel reckten, funkelten bunte Lichter, die Spaß, Staunen und Kinderlachen versprachen. Der Zirkus war in der Stadt und mit ihm ein ganz besonderer Mann.
    Khalil schüttelte die Beine aus, wie er es immer kurz vor seinem Auftritt tat, schlug sich ein paarmal aufmunternd auf den zwar noch immer muskulösen, aber längst faltig gewordenen Bauch, kämmte sich mit beiden Händen das zausige Haar zurück und spähte schließlich durch den großen schweren Samtvorhang hinaus in die Arena.
    Unzählige Vorstellungen hatte er mit seinen siebenundachtzig Jahren schon erlebt - vor und hinter der Bühne. Doch wenn er den Tieren und Dompteuren, den Artisten und Clowns zusah, fühlte er immer noch dieses Kribbeln, das er schon von klein an verspürt hatte.
    So viele glückliche Gesichter, der Glanz in den Augen der Zuschauer, das heitere befreite Lachen und die mit Süßigkeiten verschmierten Gesichter der Kinder, während sie mit offenem Mund zusahen, wie ein Hund durch einen Reifen sprang oder sich Menschen tollkühn am Trapez durch die Lüfte schwangen. Aber auch die Ruhe, das erwartungsvolle Starren, das leise Rascheln einer Bonbontüte vor dem großen Jubel, wenn ein Kunststück geklappt hatte, wirkten wie Magie auf ihn, wie ein verjüngendes Lebenselixier.
    Auch an diesem Abend war das Zirkuszelt voll mit Menschen, die der Wirklichkeit für ein paar Stunden entfliehen wollten. Doch in diesen Tagen hing das Jetzt wie eine Eisenkugel an seinen Füßen. Das Gerede über einen Kometen und den Untergang der Welt war kaum beiseite zu fegen. Selbst für Khalil nicht.
    Vor einem Brand konnte man fliehen. Bei Hungersnöten auf Spenden hoffen. Bei Unruhen und Bürgerkriegen kamen einem die Verbündeten zu Hilfe. Aber was konnte man schon gegen einen riesigen Felsbrocken aufbieten, der durch das All geradewegs auf die Erde zusteuerte?
    Man konnte nur hoffen, dass die Medien wie so oft dramatisierten und ein rein rechnerisches Vielleicht zu einem definitiven Muss aufbauschten. Der Einschaltquoten wegen oder um der Wirtschaft im Vorweihnachtsgeschäft eine nie dagewesene Einkaufswut der Bürger zu bescheren. Zumindest das funktionierte. Angst ließ bei so manchem jede Hemmung fallen, wenn es ums Erkaufen einer Illusion von Sicherheit ging. Und auch Khalil hatte sich anstecken lassen.
    Im Kofferraum seines Autos lag die viel diskutierte Notausrüstung: Zelt, Dosenessen, Trinkwasserbehälter, die obligatorische Thermodecke, eine Schachtel Feuerzeuge, ein Messer Marke Dschungelfieber, Verbandsmaterial, Feuerlöscher, Gasmaske, Sonnenbrille und reißfeste Kleidung.
    Aber im Grunde seines Herzens tat es ihm weh, alle Welt so panisch zu sehen. War es
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