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25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden
Autoren: David Benioff
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hinter den hell erleuchteten Fenstern hoch über der Straße Leute sind, die er nie kennen lernen wird.
    Auf der Second Avenue kommt er an einem Schnellrestaurant vorbei. In der einen Nische sitzt eine schöne Frau und lächelt ihn an, das Kinn auf die Speisekarte gestützt - aber es ist zu spät, mit ihr ist ihm nicht mehr geholfen. In vierundzwanzig Stunden steigt er in den Bus nach Otisville. Morgen Mittag ist er kein Mensch mehr, nur noch eine Nummer. Die Schönheit in der Nische ist ein Fluch. Ihr Gesicht wird ihn verfolgen. Sieben Jahre lang.

2
    Die Nase an das Tafelglas gepresst fragt Slattery sich, wie nahe an den Hudson ein guter Sprung ihn wohl bringen würde. Vom einunddreißigsten Stock aus - angenommen, in jedem Stockwerk ist die Decke drei Meter hoch und zwischen Decke und darüber liegendem Boden jeweils ein Zwischenraum von einem halben Meter: 93 plus 15,5 ist gleich 108,5 Meter Fallhöhe. Und wie weit vom Gebäude zum Fluss? Sagen wir 100 Meter. Eine Vertikale von 110 Metern, eine Horizontale von 100 Metern, das wäre eine Hypotenuse von... Slattery runzelt die Stirn. Moment mal. Ein Sprung aus diesem Fenster ist ja keine Rutschfahrt schön die Hypotenuse entlang. Die Schwerkraft wird ihn erdwärts ziehen, sobald sein Schwung verbraucht ist. Ein 100-Meter-Sprung also.
    Als Erstes würde er mit einem Stuhl die Scheibe herausschlagen müssen. Die Startlinie müsste an der gegenüberliegenden Wand sein, beim Wasserspender; das wäre ein Anlauf von zwanzig Metern. Das richtige Timing fürs Abspringen ist knifflig: einen Moment zu früh oder zu spät, und er bleibt mit dem Fuß am Fensterrahmen hängen und schlägt einen peinlichen Purzelbaum über die Kante; dann sind Gelächter und Gejohle das Letzte, was er hört im Leben.
    Nicht, dass es eine Rolle spielen würde, denkt Slattery. Er könnte seine Rekordzeit laufen, genau im richtigen Moment abspringen, einen starken Rückenwind erwischen - der Fluss ist trotzdem zu weit weg. Er würde nie bis zum Wasser kommen, nicht einmal in die Nähe. Stattdessen würde seine Anstrengung farbenfroh auf dem grauen Beton enden. Die Fußgänger unten würden seine Fallkurve in Erinnerung behalten, sein seltsames Gestrampel mit den Beinen, wie ein Weitspringer bei der Olympiade. Aber was brächte er schon, dieser Sprung Richtung Hudson. Sekunden nach dem Aufschlag würden die um das geborstene Fenster versammeltenHändler zu ihren Schreibtischen zurückkehren und anfangen, an ihren Sprüchen zu feilen. Binnen Minuten würden sämtliche Investment-Banker Manhattans die Geschichte kennen, auf einen Klappentext reduziert und geglättet, die perfekte Anekdote zum Abendessen mit der Familie und den Freunden: Slatter-Splatter.
    Er schlägt mit dem Kopf leicht gegen das Glas, dann richtet er sich auf. Diese ganzen morbiden Fantasien könnten verfrüht sein. Schließlich, so argumentiert er mit sich selbst, hat er die höchste Trefferquote auf dem Stockwerk. Kein anderer Händler in seiner Abteilung hat dermaßen viel Schotter rangeschafft für die Firma. Die Missgeschicke Anfang Juli einmal außen vor gelassen, diese Abfolge entsetzlicher Manöver (und welcher Schläger erleidet nicht mal ein vorübergehendes Formtief?), diese zwei Wochen einmal außen vor gelassen, und Slattery ist der Held hier, das Wunder am Schlagmal, der Hank Aaron des einunddreißigsten Stocks. Es spielt keine Rolle, sagt er sich. In einer Stunde ist alles gelaufen.
    Blassblaues Licht spannt sich über den schwarzen Fluss, als hinter dem Haus die Sonne aufgeht und widerwillig die Küste von Jersey zu erhellen beginnt. Über Brooklyn geht sie auf, denkt Slattery und trommelt mit den Knöcheln gegen das Glas. Versau diesen Deal, und du landest wieder in Brooklyn: tschüs, Apartmentwohnung im West Village, hallo, da bin ich wieder, Mom, Dad, Eoin und Tante Orla aus Scheiß-Wicklow, diese Hexe mit ihren Insider-Informationen über absolut alles, was auf diesem Planeten so läuft. Zu jeder Unruhe, die es in der turbulenten Weltgeschichte je gegeben hat, verkündet Tante Orla ihre bittere Meinung. Erwähne eine Agrarkontroverse im alten Sumer, und Orla ergreift beim dritten Wort Partei; sie wird den Feind, diese gottlosen Knallköpfe verfluchen und ein Loblied auf die armen benachteiligten Verbündeten singen und behaupten, entfernte Verwandte unter diesem Haufen zu haben, bei den Akkadinem oder Sonstwiedinem, die ja praktisch die duldsam leidenden Iren Mesopotamiens gewesen sein sollen!Für Slattery stellt
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