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235 - Auf dem sechsten Kontinent

235 - Auf dem sechsten Kontinent

Titel: 235 - Auf dem sechsten Kontinent
Autoren: Michael M. Thurner
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was er sieht oder fühlt. Strömungswechsel, Temperaturschwankungen, schlechtes Wetter, Bewegungen unter seinen Wurzelbeinen, Berührungen… Alle Bäume denken gemeinsam über ihre Erlebnisse nach und formen daraus ein Gesamtbild, das ihnen zu überleben hilft. Wenn es in einem Teilgebiet des Riesenleibes zum Beispiel zu kalt wird, dann wächst der Wald dort nicht mehr weiter, sondern sieht sich nach anderen Gebieten um, in denen er sich ausbreiten kann.«
    Nicht zum ersten Mal stellte Matthew fest, wie sehr sich Aruulas Ausdrucksweise verbessert hatte. Damals, bei Sorbans Horde, war ihr Sprachschatz noch recht einfach gewesen. Sicher, über die langen Jahre – neun waren es inzwischen! – hatte sie von ihm vieles gelernt, so wie er von ihr in die Geheimnisse der Natur und des Kampfes eingeweiht worden war. Er vermutete aber auch, dass es mit dem Kontakt zur Geistwanderin Nefertari zusammenhing. Ihrer beiden Bewusstseine hatten sich über Monate hinweg Aruulas Gehirn geteilt. Dabei könnte sie von der Hydritin, die einst als ägyptische Königin gelebt hatte, profitiert haben. Schade nur, dass Nefertari ihr nicht die hydritische Sprache beigebracht hatte. So war er wohl noch immer der einzige Mensch, der sie perfekt beherrschte.
    »Und irgendwann einmal hatten diese Bäume Kontakt mit Menschen?«, fragte er.
    »Irgendwo, nicht irgendwann«, verbesserte Aruula. »Der Wald kennt nur das Jetzt. Er würde nicht verstehen, was früher oder später bedeutet.«
    Sie erreichten eine kleine Oase inmitten des Waldes, eine Sanddüne, auf der ihnen das Wasser lediglich bis zu den Oberschenkeln reichte. »Vielleicht kannst du herausfinden, wie groß dieses Geschöpf ist?«, fragte Matthew.
    Die Barbarin schüttelte den Kopf. »Es kennt weder seinen Anfang, noch sein Ende. Es ist.«
    »Das erleichtert uns die Sache nicht besonders.« Matt sah sich stirnrunzelnd um. Es waren nur noch wenige Meter bis zum Riff, doch hier standen die Wasserbäume dicht an dicht. Sie würden sich an den Ästen vorbei quetschen oder zwischen ihnen hindurch tauchen müssen. Und das möglichst vorsichtig. Wirbelten sie den Sand auf, würden sie nichts mehr erkennen können und sich möglicherweise in einer tödlichen Falle verfangen.
    »Wir schaffen das!«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu Aruula.
    »Natürlich schaffen wir es«, bestätigte die Barbarin seelenruhig. »Der Wald ist neugierig geworden. Er fühlt, dass wir ihm nichts Böses wollen, und er wird uns nichts in den Weg legen.«
    ***
    Die Dämmerung war nicht mehr weit, als sie endlich das Riff erreichten und an den wenigen Wasserbäumen, die hier Fuß gefasst hatten, vorbei nach oben kletterten. Das Gestein fühlte sich rau und grobkörnig an, doch die Struktur war bei weitem nicht so scharfgratig wie jene der Wasserbäume.
    Aruula stellte einmal mehr ihre Kletterfähigkeiten zur Schau. Wie ein Eichhörnchen stieg sie an Matt vorbei, fasste in den kleinsten Ritzen Fuß und gelangte mühelos nach oben, während Matthew noch in der Mitte der Riffmauer hing. Kein Wunder – sie hatte sich am Fuß der Felsen des ungeliebten Tauchanzugs entledigt und trug jetzt nur noch ihren Lendenschurz und das lederne Bustier. Ihre Stiefel hatte sie sich zusammengebunden über die Schulter gehängt. Matthew fröstelte unwillkürlich; aber die Kriegerin von den Dreizehn Inseln war kühle Temperaturen gewöhnt.
    Keuchend setzte er seinen Weg fort und achtete darauf, dass er sich nicht verstieg. Bewusst wählte er eine andere Route als Aruula; sein Stolz zwang ihn dazu.
    »Links von dir ginge es besser!«, rief sie ihm vergnügt von oben herab zu. Sie saß auf einem Vorsprung und ließ die Beine baumeln.
    »Es… geht schon«, keuchte Matt. »Ich weiß genau, was ich tue.«
    »Links findest du dennoch mehr Halt. Siehst du die vorragende Felsnase nicht? Und daneben den schmalen Sims? Nein, nicht den… sag mal, bist du etwa blind?«
    »Jetzt sei endlich ruhig, zum Himmeldonnerwetter!«, brach es aus Matt hervor. »Ich hab schon kapiert, dass du der bessere Kletterer von uns beiden bist. Aber musst du mir das auch noch unter die Nase reiben?«
    »Ja«, antwortete Aruula und kicherte. Unterdrückt und doch laut genug, dass er es hören konnte.
    Minuten später stand auch er auf der höchsten Stelle des Riffs. Böiger Wind blies über den schmalen Grat hinweg. Aruula blieb unbeeindruckt stehen, während er sich sicherheitshalber niederhockte und sich an einer einsam dastehenden Felssäule
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