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226 - Das Schädeldorf

226 - Das Schädeldorf

Titel: 226 - Das Schädeldorf
Autoren: Mia Zorn
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wischte sich mit dem Ärmel über den Mund, ohne den Maler aus den Augen zu lassen.
    »Nach Phnom Penh«, sagte Lann gerade, als unter der Plane eine helle Kinderstimme erklang: »Nach Kampong Cham! Und dann in den Dschungel! Zu den Tigern!«, rief sein Jüngster.
    Lann sackte das Blut in die Füße. Trotzdem brachte er ein schiefes Lach ein zustande. »Kinder…« stammelte er. »Ich bin Dolmetscher und folge dem Aufruf der Angkar!«, fügte er schnell hinzu. »Oder werden wir in Phnom Penh nicht mehr gebraucht?«
    Die Männer antworteten nicht. Einer von ihnen sprang in das Boot. Mit dem Lauf seines Gewehres hob er die Plane an. »Rauskommen!«, brüllte er.
    »Nicht doch! Das sind doch Kinder!« Lann machte ein paar Schritte auf ihn zu. Doch sofort hatte er den Gewehrkolben im Magen. Stöhnend taumelte er zurück und landete auf den Planken. Ein weiterer Soldat sprang in das Schiff. Er stellte seinen Fuß auf Lanns Brust. Der Maler spürte den Lauf einer Waffe an seiner Wange. Hilflos sah er zu, wie seine Söhne unter der Plane hervor krochen. Sie klammerten sich an die Tunika ihrer Mutter. Der Fünfjährige weinte.
    »Wo wollt ihr hin?«, wiederholte der Mann im Schnellboot seine Frage.
    »Nach Phnom Penh.« Thik Giengs Körper bebte vor Angst.
    Lann konnte es nicht mit ansehen. Er wollte dem Ganzen ein Ende machen. In der Hoffnung, die Soldaten würden seine Familie verschonen, wollte er die Wahrheit sagen: Doch er kam nicht dazu. Schneller, als er Luft zum Sprechen holen konnte, ergriff der Bursche neben seiner Frau die beiden Jungs und schleuderte sie in den Fluss.
    Keuchend richtete Lann sich auf. Sein Bewacher ließ es zu. Er nahm den Fuß von der Brust des Malers und drückte den Gewehrlauf jetzt in dessen Genick.
    Atemlos sah Lann, wie seine Jungs aus dem Wasser auftauchten. Sie husteten und paddelten wie kleine Hunde um ihr Leben. Thik schrie und wollte zu ihren Kindern, aber der Bursche neben ihr ließ sie nicht. »Wohin wollt ihr?«, ertönte die Stimme vom Schnellboot wieder. Fast beiläufig klang sie. So als frage der Mann nach dem Wetter.
    »Nach Kampong Cham!«, schrie Thik Gieng. »Wir wollen nach Kampong Cham! Und jetzt lasst mich zu meinen Kindern!« Verzweifelt versuchte sie an dem Soldaten vorbei zu kommen. Doch vergeblich! Der Mistkerl packte sie bei den Haaren und schlug ihr ins Gesicht.
    Blitzschnell sprang Lann auf die Füße. Der Gewehrlauf, der jetzt auf seinen Nacken gerichtet war, interessierte ihn nicht. Er stürzte sich auf den Angreifer seiner Frau und riss ihn zu Boden. In seinem Rücken hörte er Thik Gieng ins Wasser springen. Zeitgleich peitschten Schüsse durch die Luft. Dann spürte er einen dumpfen Schlag auf seinem Hinterkopf. Er sackte zusammen. Wie aus weiter Ferne hörte er Thik Gieng schreien. Sie rief nach den Kindern. Schließlich wurde es dunkel. Dunkel und still.
    ***
    September 2524, Mekong-Delta, Vietnam
    Yann Haggard betrachtete die schwer demolierte Yacht: Leicht schräg hing sie im seichten Wasser. Zerborstene Planken ragten aus ihrer Seite. Dazwischen klaffte ein gewaltiger Riss, durch den die roten Plüschpolster in der Kajüte zu sehen waren. Eine Klippe oder ein vom Sturm gefällter Baum hatte sie an der Meermündung erwischt. So genau konnte das niemand mehr sagen. Nur an das ohrenbetäubende Knirschen erinnerten sich alle mit Schrecken. Besonders Yann: Er wäre beinahe durch das Loch in die Wasserfluten gestürzt. Als dann noch der Motor ausfiel, glaubte er, das wäre das Ende – und mit ihm das der beiden Hydritengeister, die in ihm wohnten.
    Den Seher fröstelte immer noch, als er daran dachte. Wie eine Nussschale war ihr Schiff über die Wellen des großen Flusses getaumelt. Es war, als ob die Ausläufer des Taifuns sie verfolgten. Immer weiter, immer tiefer ins Landesinnere trieben sie das Schiff. Bis es Matt schließlich gelang, das zerschundene Gefährt in einen Seitenarm des Flusses zu steuern. So waren sie hier gestrandet: zwischen Mangrovenwäldern und Stadtruinen, deren Umrisse sich in der Ferne ab und zu im Gewitterlicht abzeichneten.
    Yann ließ sich auf einen ausgewaschenen Findling sinken. Wird eine Menge Holz brauchen, um das Loch zu stopfen, dachte er und warf einen misstrauischen Blick in den Wald. Der prasselnde Regen verschlang alle Geräusche. Doch ihm war, als würden ihn tausend unsichtbare Augen aus dem Geflecht der Äste und Wurzeln beobachten.
    Dort hinein kriegt mich niemand! Was auch immer da lebt, es ist hungrig und ich will
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