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226 - Das Schädeldorf

226 - Das Schädeldorf

Titel: 226 - Das Schädeldorf
Autoren: Mia Zorn
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Anweisungen und neuen Gesetze der Angkar halten würde.
    »Das zerstörte Land braucht euch, um wieder zu genesen! Haltet euch bereit!« Danach verkündete die Stimme, dass besonders Ärzte, Dolmetscher, Baumeister und Gelehrte jetzt in der Hauptstadt benötigt wurden. Der Kampf zwischen den Truppen Lon Nols und denen der Khmer hatte die Stadt verwüstet und die Bewohner ins Elend gestürzt. »Kommt nach Phnom Penh!«, plärrte die Stimme, »Zweieinhalb Millionen Bürger warten auf eure Hilfe!«
    Zweimal noch wiederholte die Stimme ihre Botschaft. Dann rollte der Van in Richtung Stadtmitte davon. Kaum war er weg, erfüllten lautstarke Diskussionen den Platz. Die Leute waren froh, dass es Krachéh nicht so schlimm erwischt hatte wie scheinbar Phnom Penh. Die Hauptstadt musste völlig zerstört sein. Es war einleuchtend, dass Ärzte und Baumeister gebraucht wurden. Auch den Bedarf an Dolmetschern verstanden sie. Schließlich lebten unzählige ethnische Gruppen in einer so großen Stadt. Aber was sollten die neuen Gesetze? Hatte dieser verfluchte Lon Nol sie nicht schon genug mit neuen Gesetzen geplagt?
    Auch unter dem Feigenbaum wurde debattiert. »Notstandgesetze!«, rief ein älterer Mann. »Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Ihr habt doch gehört: Das Ziel der Angkar ist Unabhängigkeit! Sie handeln im Sinne von Prinz Sihanouk.«
    Die Zweifler senkten die Köpfe. Prinz Sihanouk hatte in den Fünfzigern die Franzosen aus ihrem Land geworfen und Kambodscha als freie Republik ausgerufen. Außerdem waren die Khmer die größte Volksgruppe des Landes. Aber konnte man ihnen wirklich trauen? Oder waren sie auch wieder nur Marionetten von machtgierigen Ausländern?
    Ein Friseur, der gerade dabei war, seinen Arbeitsplatz in den Schatten des Baumes zu verlegen, drängte sich in die Runde. »Ich habe gehört, dass der Prinz aus seinem Exil zurückkehren will. Die Angkar regieren bestimmt nur so lange, bis Sihanouk wieder da ist.« Er hatte den letzten Satz noch nicht beendet, als alle ihn mit Fragen bestürmten. Alle, außer der zahnlosen Frau und Lann Than, die etwas abseits beim Postsack saßen.
    »Hauptsache, unser Arzt verlässt Krachéh nicht«, brummte die Alte. »Er wird doch hier bleiben, oder, Lann Than?«
    Der Maler antwortete nicht. Er war vertieft in einen Brief, den er aus Kampong Cham erhalten hatte. Anscheinend waren es schlechte Nachrichten: Tiefe Falten durchfurchten Thans Stirn, und seine sonst großen runden Augen waren nur noch schmale Schlitze.
    Der Alten entgingen sowohl der besorgte Gesichtsausdruck des Malers, als auch das einsetzende Zittern seiner Hände. Sie stocherte mit ihrem Stock in der staubigen Erde zu ihren Füßen. »Dich könnten sie sicher gut brauchen dort. Als Dolmetscher, meine ich. Vielleicht bezahlen sie auch ein paar –«
    Unsanft wurde sie unterbrochen: Lann Than war so heftig aufgesprungen, dass er dabei das Notenpult gegen die Brust der Zahnlosen stieß. »Entschuldige!«, rief er ihr über die Schulter zu und rannte die Böschung zum Flussufer hinunter. Verwundert schaute die Alte ihm nach. Schnell wie der Wind jagte der Maler den Pfad entlang, der zu seiner Hütte führte. Schneller fast als der Stift, den er vorhin noch über das Papier hatte fliegen ließ.
    ***
    September 2524, Mekong-Delta, Vietnam
    Der Küstenstreifen zog sich wie ein ockerfarbenes Band nach Osten. Irgendwo dort würde das mächtige Mekong-Delta die Landmasse öffnen. Aber wo? Matt Drax spähte erneut durch das Fernrohr. Vor Tagen hatten sie mit ihrem Schiff die Südspitze Malaysias hinter sich gelassen und nahmen Kurs auf die Philippinen. In dieser Zeit schrumpfte ihr Vorrat an Alkohol zusehends. Nicht etwa, weil Yann, Aruula und er Trinkorgien feierten, sondern weil Alkohol der Treibstoff für diesen Kahn war, der entfernt einer Yacht ähnelte.
    Der antik anmutende Motor soff so viel von dem kostbaren Nass, dass sie an windigen Tagen lieber das Segel benutzten. Im Augenblick herrschte nur eine leichte Brise. Seit Stunden tuckerten sie mit eingeholtem Segel und geringem Tempo parallel zur Küste.
    Matt setzte das Fernrohr ab und schaute prüfend über das Meer: Das Wasser schimmerte türkis im Morgenlicht. Eine leichte Brise kräuselte seine Oberfläche, und das leise Rauschen und Klatschen der Wellen schufen eine gleichförmige Melodie. Sämtliche Fragen und Sorgen verloren ihre Dringlichkeit bei diesem Anblick. Wind und Wasser nahmen sie mit sich und hinterließen die Gewissheit, dass sich alles zur
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