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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
Autoren: Karl May
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mußte. Der Effendi aber stand so heiter und so rüstig, als ob er gar nicht von ihnen berührt worden sei. Nachdem der Vater mit dies erzählt hatte, schlief er wieder ein.“
    „Wie sonderbar! Was sagst du dazu, Sihdi?“
    „Ich bin kein Ruja tschykaran (Traumdeuter)“, antwortete ich. „Eigentümlich ist es freilich, daß der eine Traum so deutlich und so sicher an den anderen knüpfte.“
    „Warum eigentümlich?“ fragte der Peder. „Ist es nicht mit dem Leben ganz dasselbe? Knüpft da nicht auch das eine an das andere an? Wenn in dieser Beziehung etwas sonderbar sein kann, so ist es nur der unbegreifliche Wahn, daß ein von der Seele und von dem Geist so unendlich reich ausgefülltes Dasein in dem Leib von Würmern und von Maden enden könne! Der Traum des Hadschi ist mehr als ein Traum, denn er zeigt uns die Wirklichkeit. Wenn alle Menschen, die auf Erden wohnen, nichts als Würmer oder Maden wären, und nur ein einziger besäße Geist und Seele, sie würden doch nicht imstande sein, ihn auch nur körperlich, und noch viel weniger geistig oder seelisch zu vernichten! Der Effendi kann nicht nur, wenn andere von ihm träumen, sondern auch wenn sie von diesem Traum erwachen, vollständig ruhig sein!“
    „Nicht nur ruhig!“ sagte der Ustad; „sondern sogar glücklich! Komm, Effendi; geh mit mir!“
    Er nahm mich bei der Hand und führte mich hinaus nach der Stelle, wo ich abends immer gesessen hatte. Er legte mir seine Rechte aufs Haupt und sprach:
    „Hier war es, wo, grad so wie jetzt, diese meine Hand auf dir ruhte. Kannst du dich noch besinnen, mit welchen Worten ich dich willkommen hieß?“
    „Ja“, erwiderte ich.
    „Sage sie!“
    „Ich heiße dich zum zweitenmal willkommen und bitte dich, bei mir zu bleiben, solange es dir und deinem höheren Ich, welches ihr Seele zu nennen pflegt, bei mir und meiner Seele gefällt. Ich habe auf dich gewartet!“
    „Ja; so sagte ich. Du hast es dir gemerkt. Und heute wiederhole ich diese meine Worte. Ich heiße dich zum dritten Mal willkommen! Bis jetzt warst du bei mir. Heut aber hat es sich herausgestellt, daß auch deine Seele bei der meinen ist. Effendi, weiß du, was das heißt? Noch nicht!“
    Er ließ seine Hand von mir herabgleiten, deutete nach dem Tempel, der drüben hell im Sternenlicht stand, und fuhr fort:
    „Es gibt Welten, von denen du keine Ahnung hast. Wie die Sterne immer weiter und weiter entfernt von der Erde liegen, so erheben sich diese Welten in unirdischen Entfernungen übereinander. Keine niedere kann die höher liegende stören. Wer sich in eine höhere emporgerungen hat, der bleibt für die niedere unerreicht; es sei denn, daß er freiwillig zu ihr niedersteigt. In allen diesen Welten gibt es Bewohner, welche die höhere entweder hassen oder sich nach ihr sehnen. Die Hassenden sind für sie unschädlich. Die sich Sehnenden werden emporgehoben. Es liegt eine unermeßliche Macht in diesem Sehnen. Sie ist wie die Gewalt des gläubigen Gebetes, welchem Chodeh nicht wiederstehen kann, wenn es selbstlos ist! Diese Welten sind vor deinem Auge unsichtbar, deiner Seele aber wohlbekannt. Aber daß sie vorhanden sind, das kannst du fühlen, wenn sich in deiner Seele Sehnsucht nach einer höheren regt. Diese Sehnsucht ist eine schmerzliche, weil der Geist, von dem sie sich nicht trennen darf, nicht folgen will. Er ist das Selbst; sie aber ist die Liebe. Er will nicht auf das verzichten, was er jetzt besitzt, weil er nicht an das glaubt, was wohl ihr Auge sieht, aber nicht das seine. – Wie unendlich glücklich bist du da, Effendi! Du besitzest diesen Glauben; ja, er ist sogar doppelt dein: Was deine Seele glaubt, glaubt auch dein Geist. Was sie erstrebt, wird auch von ihm ersehnt. Du wirst es erreichen!“
    Er senkte den Kopf und schwieg eine kleine Weile. Dann sprach er mit leiserer Stimme weiter:
    „So war es nicht bei mir! Mein Wesen war nicht ein vereintes wie das deinige; es war geteilt. Der Zweispalt wohnte zwischen meiner Stirn und meinem Herzen. Ahnst du wohl, wie er hieß?“
    „Ahriman Mirza?“ wagte ich zu raten.
    „Ja; er war es! Er ist's zu jeder Zeit, der sich zwischen Geist und Seele drängt, um womöglich beide zu vernichten. Du kennst ihn nicht in dieser fürchterlichen Tätigkeit, weil bei dir Geist und Seele einig sind. Er konnte nicht zwischen sie treten. Und aber dennoch solltest du ihn kennen. Er griff bei dir an anderer Stelle zerstörend ein. Er drängte sich zwischen sie beide und den Körper! Dein leibliches,
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