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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
Autoren: Karl May
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mit der Linken umarmt und zeigte mit der Rechten nach dem Alabasterzelt hinauf.
    „Erzähle mir von deinem Bild weiter!“ sagte er. „Es wird sich jetzt ein anderes zeigen. Auch aus einem Kitab el mukaddas, aber nicht aus einem geschriebenen, welches man nach Belieben öffnen und schließen kann, sondern aus dem, welches unaufhörlich über die ganze Erde offen ausgebreitet liegt. Wenn du die Bilder deines Buches recht verstanden hast, so wirst du auch dieses recht verstehen.“
    Jetzt drehte der Ustad sich nach unserer Seite. Als er uns in Umarmung stehen sah, nickte er zu uns herauf und verließ den Tempel, um herbeizukommen. Die Augen aller anwesenden Dschamikun und ihrer Gäste waren hinüber nach dem höchsten Punkt des Gebirges gerichtet.
    Die Sonne hatte unser Tal verlassen und senkte sich jenseits der Berge nieder. Während sie diese auf der uns abgelegenen Seite beleuchtete, begann hier die Dämmerung emporzusteigen. Schon webten um den See dunkle Schatten, die wie abgeschiedene Seelen über seine Gewässer zu schiffen schienen. So, wie diese Dämmerung emporstieg, um schließlich das ganze Tal in Dunkel zu hüllen, so klettert auch das Leid im Menschenherzen immer höher und höher, um es gänzlich auszufüllen. Gibt es denn keinen Punkt, den es nicht erreichen kann, den es niemals ganz zu umnachten vermag? Doch!
    Schon waren die Bergeshäupter im Süden, Osten und Norden in ihr letztes, tiefstes Violett gefärbt; dann wurden sie von den Strahlen verlassen, die empor zum Firmament flüchteten, um sich in dem Glanz der Sterne aufzulösen. Im Westen aber, wo der Himmel in Flammenglut gestanden hatte, erschien der letzte Tagesgruß im Abendrot, um sich am Alabasterzelt sterbend auszuleuchten. Es stand in dieser keuschen Abschiedsglut, als sammelte es am Tor der Seligkeit die hochgestiegenen Pilgerseelen allesamt, die, durch des Lebens Leid und Weh verklärt, dem höchsten Erdenpunkt entschweben sollen, damit der Felsengrund, auf dem das ‚hohe Haus‘ errichtet wurde, sich als vom Herrn mit eigener Hand gelegt erweise.
    Der Himmelsstrahl brach sich auf dem halbdurchsichtigen Stein in all seinen Erdenfarben. Sie schimmerten und blitzten, als sei das ganze Zelt mit den Schmuckstücken der Herrscher aller Zeiten und aller Welten ausgelegt. Und noch als diese märchenhafte Herrlichkeit vom abendlichen Dunkel erreicht und unseren Augen entzogen wurde, war es anzusehen, als ob jeder einzelne der Brillanten sich weigere, für heut bis morgen ausgelöscht zu werden.
    Ich stand noch längere Zeit und schloß die Augen, um dieses wunderbare Bild fürs Leben festzuhalten. Man sagt, die Erde könne schon die Hölle sein. Jawohl; ich glaube es! Doch mit demselben Recht der Ewigkeit, sich uns schon hier in der Zeit zu offenbaren, kann uns die Erde auch ein Himmel sein. Wenn der Himmel nur von Engeln oder Seligen und die Hölle nur von Teufeln oder Verdammten bevölkert wird, so kommt es ja wohl nur auf die Menschen an, welches von beiden sie sein und wozu sie die Erde machen wollen!
    Der Peder riß mich aus meinem Sinnen.
    „Nun, Effendi“, fragte er, „gleicht dieses Bild dem deinen, von welchem du sprechen wolltest?“
    Mit einigen kurzen Worten erklärte er dem Ustad, auf was sich diese seine Frage bezog. Dann antwortete ich:
    „Könnte ich dir deutlich machen, was das ist, was wir im Abendland ein Pendant nennen. Sonderbarerweise sind beide Bilder ähnlichen Inhaltes und einander nahe verwandt. Ich möchte das meinige ‚Vom Himmel nach der Erde‘ und dieses hier ‚Von der Erde nach dem Himmel‘ unterzeichnen. In meinem alten Buch fehlen Blätter. Ich habe es versucht, die Lücken durch meine Phantasie zu ergänzen. Das erste Blatt, welches ich ihm geben möchte, ist das, von dem ich sprach. Ich dachte folgendes: Ein hoher Punkt in Ahuramazdas lichtem Himmel, der steil zur Tiefe fällt, in der die Erde liegt. Da oben eine Schar seiner Engel, die wißbegierig und verlangend nieder in das Unbekannte schauen. Zu ihnen tritt Ahriman, der Empörer, der sich dünkt, Gott gleich zu sein. Er will hinab, doch nicht allein. Er sucht sie zu verführen, den Himmel zu verlassen und mit ihm ein Reich zu gründen, in dem der Herr nichts zu befehlen habe. Um sie dem ewigen Gebieter abwendig zu machen, spricht er zu ihnen in jener Weise, welche man heut diabolisch nennt. Er betört sie so mit Aftergründen und trügerischen Schlüssen, wie heut Ahriman Mirza es mit uns zu tun versuchte. Und erstaunlich ist es wohl: der
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