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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Fadenende her wieder aufgerollt werden konnten. Also hatte er ihnen geantwortet:
»Hamburg ist das Tor zur Welt, und warum solltet ihr da nicht hindurchmarschieren? Aber es ist auch Sodom und Gomorrha und Babylon, und die laßt gefälligst links liegen, sonst seid ihr ganz schnell am Ende! Wenn die Freiheit überhaupt etwas taugt, dann deshalb, weil ihr euch entscheiden dürft.«
Und Else hatte von ihrer Einsamkeit gesprochen, die sie aber gern auf sich nehme, wenn es nur still bleibe um sie her. Anfangs, hatte sie erzählt, seien sie gekommen, die Gewendeten, in Berlin und später auch noch in Leuna, hatten sich aufgeführt, als wären sie schon immer auf der anderen Seite gewesen, und erklärt, sie hatten den Auftrag, nach dem Major zu suchen. Einer, so Elses Bericht, habe ihn den ›Kopfjäger‹ genannt und ein anderer den ›Verhörmeister‹ und ein dritter den ›Großinquisitor‹. Aber ihre Antwort habe jedesmal gelautet, sie wisse nicht, wo ihr Mann sich aufhalte, er habe auch sie und die Kinder verlassen. Nach einigen Monaten sei es dann weniger geworden mit den unliebsamen Besuchen, und schließlich habe es damit ganz aufgehört.
Er hatte ihnen noch einmal eingeschärft, seinen neuen Namen, seine Adresse und Telefonnummer nirgendwo festzuhalten außer im Kopf, und sie hatten es versprochen. Spätabends hatten sie sich getrennt. Else und die Kinder waren nach Röm zurückgefahren, im Wartburg, der ihnen geblieben war, und er hatte sich in seinen Volvo gesetzt.
Er stand auf, verließ das Zimmer, ging in den Stall, in dem es jetzt, im Sommer, keine Tiere gab. Er stieß auf Sören, den dänischen Gehilfen, der gerade zum Melken fahren wollte, und sagte:
»Ich komme mit.«
Im Grunde interessierte die Viehhaltung ihn nicht, aber eine der lästigsten Begleiterscheinungen des Exils war die Langeweile, und um ihr zu begegnen, fuhr er häufig mit dem jungen Mann, der leidlich Deutsch sprach, hinaus zu den Tieren.

3
    Die Nachricht war drei Tage alt, und sie hatte Paul Kämmerer bis in die Fingerspitzen hinein verändert, und das sogar buchstäblich.
    Es war morgens sieben Uhr. Er stand vor dem Spiegel und rasierte sich, versuchte es wenigstens. Innerhalb weniger Minuten hatte er sich schon viermal geschnitten und das Schaben daher immer wieder unterbrechen müssen, um das Blut abzuwischen.
    Natürlich hätte er die Stoppeln einfach stehenlassen können, aber die Rasur war für ihn eine Übung, mit deren Hilfe er es schaffen wollte, das verfluchte Händezittern zum Stillstand zu bringen. Bislang allerdings war das Ergebnis unbefriedigend. Nicht nur, daß die neuen Verletzungen bluteten, auch die Schnitte von den beiden Vortagen waren wieder aufgeplatzt. Er sah aus, als wäre er bei einem Verkehrsunfall gegen die Windschutzscheibe geprallt.
    Endlich war er fertig. Er nahm den Alaunstift und betupfte die Wunden. Es brannte höllisch, stoppte aber schließlich die kleinen roten Rinnsale. Danach ging er ins Schlafzimmer zurück und setzte sich erst einmal aufs Bett, hielt die Arme nach vorn, betrachtete seine Hände.
    Er war siebenundvierzig Jahre alt und bis vor drei Tagen so gesund gewesen, wie man sich’s nur wünschen konnte. Die große Narbe auf der rechten Schulter mit ihrem zwei Zentimeter tiefen, blauweiß verfärbten Trichter behinderte ihn schon seit langem nicht mehr, und wenn von Zeit zu Zeit eine Frauenhand dort verweilt hatte und dann Bemerkungen gefallen waren wie »Bist du Löwenbändiger von Beruf?« oder »Wer hat dich denn da gekratzt?« hatte ihn das amüsiert und zu Geschichten angeregt, in denen zum Beispiel von einem wütenden Dobermann die Rede war oder von einer Prügelei, bei der am Ende ein Messer gezückt wurde. Die Wahrheit hatte er nie erzählt.
    Noch immer hielt er die Arme ausgestreckt, und nach wie vor bebten die Hände. Er wußte, man konnte durch einen Schock die Sprache verlieren oder einen Herzinfarkt bekommen, aber daß ein Ereignis, mochte es noch so einschneidend sein, die Hände eines Menschen zum Beben brachte, das hatte er noch nie gehört.
    Vor drei Tagen hatte es begonnen. In Halle. Da hatte ein Mann namens Georg Schöller zu ihm gesagt, Tilmann lebe nicht mehr. Auf seine fassungslos hervorgestoßene Nachfrage hin hatte der andere zunächst geschwiegen, später aber geflüstert: »Ich will mir keine Läuse in den Pelz setzen.« Dann hatten seine mehrfachen Bitten, unterstützt von einem Hundertmarkschein, doch noch etwas zutage gefördert. Die Stimme weiter eindämmend,
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