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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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ihm durch den Kopf, ja, er sprach sie sogar halblaut vor sich hin:
    »… der Deutschen Demokratischen Republik, meinem Vaterland, allzeit treu zu dienen und sie auf Befehl der Arbeiter-und-Bauern-Regierung gegen jeden Feind zu schützen …
… die Feinde des Sozialismus auch unter Einsatz meines Lebens zu bekämpfen …
… ein ehrlicher, tapferer, disziplinierter und wachsamer Angehöriger des Ministeriums für Staatssicherheit zu sein …
… Sollte ich jemals diesen meinen feierlichen Fahneneid verletzen, so möge mich die harte Strafe der Gesetze unserer Republik und die Verachtung des werktätigen Volkes treffen.«
Er trat vom Fenster zurück, setzte sich in den wuchtigen Ohrensessel, schloß die Augen, dachte. Es kann nicht sein, daß heute als Verbrechen gilt, was noch gestern heilige Pflicht war! Ich habe meinen Staat beschützt, wie man es von mir verlangte, und wenn ich diejenigen, die sich gegen ihn stellten, an den Pranger brachte, so war auch das ein Teil meiner Pflicht. Zum Beispiel dieser Lehrer aus Bitterfeld, der unseren Kindern von der Freiheit erzählte und sie eine der Segnungen des Westens nannte und doch wissen mußte, was sich dahinter verbarg, eine drogenverseuchte Jugend, eine aidsinfizierte Gesellschaft, eine labile Rechtsprechung, die Erzkriminelle in Märtyrer verwandelt. Na, und dann der Wucher, der die Reichen immer reicher macht und die Armen immer ärmer und der sich hinter der Maske einer angeblich sozialen Marktwirtschaft versteckt! Nein, Herr Schulmeister, Sie haben Verrat geübt an unserer Jugend, und dafür wurden Sie zur Rechenschaft gezogen. Daß Sie sich nach der Verurteilung das Leben genommen haben, betrifft mich nicht. Was kann ich dafür, wenn Sie mit Ihrer Schuld nicht zurechtgekommen sind?
Und der Merseburger Kneipenwirt, der ständig Schauergeschichten über uns verbreitete und sie sogar in den Westen lancierte! Mir blieb wirklich nichts anderes übrig, als einen operativen Vorgang gegen ihn einzuleiten! Klar, das war ein drastisches Mittel, aber ich mußte die Republik vor Schaden bewahren, mußte diesem Defaitisten zuvorkommen, und in der Richtlinie 1/76 ist der OV ausdrücklich als vorbeugendes Instrument genannt, das dazu dient, mögliche Gefahren, Schäden oder andere schwerwiegende Folgen feindlich-negativer Handlungen zu verhindern. Natürlich ist der Kerl längst raus aus Bautzen, und wahrscheinlich sucht er nach mir, aber er wird mich nicht finden.
Und erst die fanatische Dozentin, für deren Überführung ich die Urkunde bekam! Wieso soll plötzlich nicht mehr Rechtens sein, daß ich sie, die Initiatorin staatsgefährdender Versammlungen, hinter Schloß und Riegel brachte, ganz so, wie unser Paragraph 217 es vorsah?
Na, und an dem Schicksal jenes Grünschnabels, der einfach unbelehrbar und obendrein renitent war und unsere DDR ein einziges riesiges Gefängnis nannte, bin ich auch nicht schuld. War doch selbstverständlich, daß ich meine Verhöre nicht mit dem Gesäusel eines Brautwerbers durchführte, sondern Klartext redete und auch schon mal nachhalf mit den Händen. Schließlich hatte ich fast immer Elemente vor mir, die es darauf anlegten, unser Land in Verruf zu bringen!
Er schweifte ab ins Private, dachte an seine Familie. Else war zu ihrer Schwester nach Leuna gezogen, und die Kinder, Oswald und Annegret, hatte sie zum Studieren in den Westen geschickt. Sie hatten eine Zweizimmerwohnung in Hamburg, bekamen Bafög und verdienten sich noch Geld nebenher, der Junge im Hafen und Annegret bei der Post.
Zum Glück wußte er, daß es den dreien gutging. Erst vor wenigen Tagen war er mit ihnen zusammengewesen. Else und die Kinder hatten sich auf der Insel Röm ein Ferienhaus gemietet, und als nach drei Tagen feststand, daß sie nicht observiert wurden, hatte Oswald ihn von einer Telefonzelle aus angerufen. Zwei Stunden später hatten sie sich auf halber Strecke, in Skaerbek, getroffen und bei einem üppigen Abendessen lange miteinander geredet.
»Hamburg ist super«, hatte Oswald gesagt, und Annegret hatte hinzugefügt: »Da ist so viel los, daß wir manchmal gar nicht wissen, was wir auslassen sollen.« Das hatte dem Vater nicht behagt, aber er war klug genug gewesen, seine Meinung für sich zu behalten. Das Rad ließ sich nun mal nicht zurückdrehen, und da war es für die Kinder besser, sich so schnell wie möglich dem westlichen Lebensstil anzupassen. Sie durften das, waren nicht, wie er, in Geschichten verwickelt, die plötzlich von einem verfluchten
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