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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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hatte. Beides war ihm durch die Wende abhanden gekommen. Aber er wollte das nicht wahrhaben, und so sagte er manchmal zu den Getreuen:
    »Leute, vergeßt nicht, wir bleiben die, die wir drüben gewesen sind!«
    Er hatte die Gardine ein Stück zur Seite geschoben und sah in den Garten. Das langgestreckte dänische Bauernhaus war, von zwei ausgebauten Giebeln abgesehen, nur einstöckig, und daher lag der etwa tausend Quadratmeter große Rasen direkt vor ihm. Am Rand blühten gelbe Dahlien und weiße Margeriten, aber sein Blick glitt immer wieder in den Nordwestwinkel, wo die leuchtendroten Stammrosen ihren Platz hatten. Sie standen dort wie in die Ecke gedrängt. Das sind wir, dachte er, vom großen Unwetter in die Enge getrieben …
    Er hieß Frank Kopjella, aber mit dem Majorsrang und der Uniform hatte er auch seinen Namen abgelegt. Theo Bärwald nannte er sich nun. Und die Wende hatte ihm noch mehr Veränderungen aufgezwungen, von denen die der Lebensweise und des Quartiers die einschneidendsten waren. Viele Jahre hindurch hatte er die Privilegien der DDR-Führungsschicht genossen, so das Dienstfahrzeug, zunächst den nicht mehr taufrischen Lada, später den nagelneuen Wartburg, die ungehinderten und mindestens zwei dutzendmal unternommenen Reisen in den Westen, den bevorzugten Einkauf von Lebensmitteln und Kleidung und die zahlreichen Prämien für die Treue zur Partei, seien sie nun in Form von Geld oder Geschenken auf ihn gekommen. Mit all diesen Begünstigungen war es nun vorbei, doch zu seinem Glück gab es die HADEX, ähnlich wie es nach dem Zweiten Weltkrieg die ODESSA gegeben hatte, eine Organisation also, in der die Gefährten von einst aufgefangen wurden.
Die HADEX, mit vollem Namen HANSEATISCHE DÜNGE-MITTEL-EXPORTGESELLSCHAFT, war eine schon lange vor der Wende im Handelsregister aufgeführte und nach außen hin biedere Firma mit Hauptsitz in Lübeck. Sie hatte eine tüchtige Marketingmannschaft und verkaufte ihre den Bodenertrag steigernden Produkte in alle Welt. Im Hintergrund jedoch befaßte sie sich mit der Betreuung von ehemaligen SED-Funktionären und StasiOffizieren, die untergetaucht waren. Sie pflegte, ebenfalls weltweit, konspirative Kontakte und hütete einen geheimen Fonds aus Geldern, die auf schweizerischen und luxemburgischen Konten lagerten. Auch schon vor dem Umsturz war hinter der soliden Fassade des Handelshauses ein falsches Spiel getrieben worden, nur hatte es einem anderen Zweck gedient, nämlich der Etablierung und Steuerung von DDR-Agenten. Somit bestand, als es dann zum Zusammenbruch kam, ein funktionierender Apparat mit dickem Finanzpolster, das durch einen geschickten Transfer von Parteigeldern zuletzt sogar noch vervielfacht worden war.
Er, Frank Kopjella, war einer der achtunddreißig Offiziere, die die HADEX unter ihre Fittiche genommen und auf die in mehreren westeuropäischen Ländern eingerichteten Nester verteilt hatte. Zu dieser Schutzmaßnahme hatten sowohl die Ausstattung mit falschen Papieren wie auch die Übergabe einer beträchtlichen Summe Geldes gehört. Was den Unterschlupf betraf, hatte er die Wahl gehabt zwischen drei Möglichkeiten, der Anstellung in einer belgischen Textilfabrik, der Anmusterung auf einem holländischen Frachter und der Unterbringung auf einem Bauernhof in der Nähe des Städtchens Ribe in Dänemark. Er hatte sich für den dänischen Standort entschieden, wo er, zusammen mit zwei Getreuen, die Landwirtschaft zwar nicht eigenhändig betrieb, ihr aber als Verwalter vorstand. Die Arbeit auf den Feldern, im Stall und in der Küche wurde vorwiegend von Einheimischen, zwei Männern und einer Frau, geleistet. Nur zur Erntezeit sprangen die Kameraden, Hartmut Künzel und Lothar Schmidtbauer, mit ein. Der eine war ein zweiundvierzigjähriger Hauptmann, der andere ein Oberleutnant, noch jung, einunddreißig erst, und schon zu DDR-Zeiten sein engster Vertrauter, der so manches Geheimnis mit ihm teilte.
Noch immer blickte er hinüber zu den Rosen, an deren zarten Blüten der Wind gerüttelt hatte. Einige Blätter, die sich nicht hatten halten können, lagen über den Rasen verstreut, und einmal mehr wurde seine Phantasie beflügelt. In den verwehten rotsamtenen Teilchen sah er wiederum seine Leidensgenossen und sich selbst, wie sie, entwurzelt und auseinandergetrieben, irgendwo in Europa eine vorläufige Bleibe gefunden hatten.
Dabei haben wir, dachte er, doch nur unsere Pflicht getan, wie wir’s geschworen hatten. Bruchstücke des Fahneneids gingen
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