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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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der Stein nicht zu sehen, den er schon vor Tagen am Wegrand deponiert hatte. Er war etwa kopfgroß und von hellgrauer Farbe und hatte eine lebenswichtige Funktion, machte er doch eben die Stelle deutlich, an der man abbiegen mußte, wenn man auf die minenfreie Spur gelangen wollte.
    Das Licht lief nur wenige Meter vor dem Mähdrescher her, aber dort, wohin es fiel, war alles taghell erleuchtet, so daß jede Rille, die die Reifen auf der Hinfahrt im Sand hinterlassen hatten, zu erkennen war. Das schwerfällige Gefährt rumpelte wieder mehr als auf dem Feld, weil vor ein paar Tagen heftiger Regen den Landweg aufgerissen hatte und viele Mulden entstanden waren.
    Er sah den Stein, ohne den sie sich das Einschwenken um neunzig Grad nach rechts nicht hatten erlauben dürfen. Zu groß wäre die Gefahr gewesen, sich um einen oder auch nur einen halben Meter zu verschätzen und dann mit einem der Räder die Explosion auszulösen.
    Er erreichte die Markierung, löschte die Lichter und riß den Hebel hoch, den sie neben der Gangschaltung eingebaut hatten. Das sperrige Auslaufrohr fiel ab. Gleich danach zog er die Stahlplatte vor das Glas, bog ein, drückte das Pedal durch. Der Kasten wurde schneller, immer schneller. Mit dreißig, vierzig, fünfzig, schließlich sechzig Kilometern pro Stunde raste er westwärts, machte dabei einen Höllenlärm. Klar, daß vor allem dieses extrem verstärkte Geräusch die Männer auf dem Turm alarmieren würde. Noch allerdings – etwa hundertfünfzig Meter waren geschafft – war nichts geschehen. Vielleicht sind sie eben mal runtergegangen vom Turm, dachte er, aber da brach es los.
    Fast gleichzeitig trafen der Scheinwerferstrahl und die ersten Schüsse auf das Fahrzeug, und ein, zwei Sekunden später waren es ganze Kaskaden aus MG-Läufen, die die rechte Wagenseite auszuhalten hatte. Das tat sie auch.
    Hundert Meter noch, schätzte Brockmüller. Ein Wimpernschlag, wenn man bei der Erntearbeit ist, eine Ewigkeit, wenn man mit Geschossen um die Wette fährt.
    Achtzig Meter. Einen kurzen, hitzigen Gedanken lang hatte er ein Gedicht im Kopf, das er in der Schule gelernt hatte. »Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo« hieß es da. Die haben’s auch geschafft, dachte er. Doch bevor ihm einfiel, daß der tapfere Steuermann dabei draufgegangen war, verrann die Erinnerung.
    Sechzig Meter. Mehr und mehr konzentrierten sich die Salven auf die Kabine. Rechter Hand war kein Glas mehr da. Die Kugeln hämmerten gegen den nackten Stahl. Jetzt zerbarst auch das Verdeck, und er zog den Kopf ein.
    Nur noch vierzig Meter. Aber da geschah es. Ein Einschlag wie keiner vordem, ohrenbetäubend, vehement. Einen Augenblick schien es, der ganze Kasten würde auseinanderplatzen oder umstürzen, doch er war nur ins Schleudern geraten, hatte hinten einen Treffer bekommen, und offenbar war es ein anderes Kaliber als das der MGGeschosse gewesen. Das Heck hatte einen regelrechten Satz gemacht, und gleichzeitig mußte der Wagen dort irgendwas verloren haben, vielleicht den Tankdeckel oder die Querschneide des Häckslers oder gar die Rückwand. Er konnte, er durfte sich jetzt nicht darum kümmern. Es hätte das Ende der Flucht bedeutet. So bemühte er sich, die Gewalt über sein Fahrzeug zurückzugewinnen, schaffte es auch und drückte erneut aufs Pedal. Die Maschine arbeitete einwandfrei. Die Fahrt ging weiter.
    Noch zwanzig Meter, noch zehn. Nun erst merkte er, daß er sich bei dem gewaltigen Stoß verletzt hatte. Blut lief ihm über die Augen. Aber der Zaun war zum Greifen nah, und was gegen die Stahlwände trommelte, waren wieder nur die MG-Salven, die ihnen nichts anhaben konnten. Er spürte, daß er ohnmächtig zu werden drohte, und wußte kein anderes Mittel dagegen als zu schreien. Wer schreit, ist noch da. Und so schrie er auf seinen Kasten ein wie auf einen Partner, von dem alles abhängt: »Los! Los doch! Durch! Wir haben dich hochgepäppelt, und nun tu was dafür, du Hurensohn, du Fortschrittsheini, du …«
    Es krachte ein letztes Mal, und das war ein wunderbares Geräusch, denn von jetzt an waren die Meter anders zu zählen, fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig …
    Bevor er über dem Lenkrad zusammenbrach, sprach er noch einmal mit seinem Gefährt: »Gut gemacht, Kumpel! Wirklich gut!«
    Aber er hatte nicht in den Kasten gesehen.

2
    Seitdem waren Jahre vergangen, und Deutschland hatte ein anderes Gesicht.
    Der Major stand am Fenster. Eigentlich hatte er diesen Rang nicht mehr, wie er auch seine Uniform nicht mehr
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