Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
Vom Netzwerk:
mußte, stand bereit. Er hatte ihn schon am Nachmittag hergebracht. Natürlich konnte er ihn diesmal nach der Arbeit nicht mitnehmen, aber das war so ungewöhnlich nicht. Die Männer würden denken. Am nächsten Morgen kommt der Bauer mit dem Trecker und holt die Fuhre ab.
    Drei Tankfüllungen paßten in den hochbordigen Wagen. Das war immer so, und es dauerte etwa eine Stunde. Und wenn das Fahrzeug anschließend das Feld verließ, mußten die Posten den Eindruck haben, nun ginge es nach Haus. Daß es dann ganz anders käme, daß nach gut hundert Metern der plötzliche Hakenschlag erfolgen und der Kasten mit der für einen Mähdrescher aberwitzigen Geschwindigkeit von sechzig Kilometern pro Stunde durch die minenfreie Schneise auf den Zaun zurasen würde, ahnten sie ja nicht. Doch einstweilen schleppte das Ding sich mit läppischen zehn Sachen übers Feld, hin und her, hin und her.
    Marianne Brockmüller hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt. Sie träumte vom anderen Deutschland, von dem der Verheißung. Doch dann und wann fiel sie heraus aus ihren Visionen, betete, daß ihr Mann nur ja nicht vergessen möge, die Stahlplatte vor das Glas zu ziehen, oder überlegte, wie weit der Tank schon gefüllt sein mochte, denn der war für sie, auch wenn sie nicht hineinsehen konnte, wie eine Sanduhr.
    Tilmann dachte an seine Schulfreunde, die zurückblieben, und fragte sich, wie die neuen Mitschüler ihn wohl aufnehmen würden.
    Bauer Brockmüller dachte. Eine Bahn noch, dann muß ich ausleeren, und ein Drittel der Zeit ist herum. Und dachte. Wenn das Ding gegen den Zaun donnert, halt’ ich mir die Hände vors Gesicht, denn natürlich geht die Kabine dabei zu Bruch, und mir fliegt so einiges um die Ohren …
    Paul Kämmerer, der an der rechten Wand lag, wünschte sich, Maria könnte diesen Abend miterleben. Daß er ihr Grab in Halle zurückließ, schmerzte ihn, aber die Toten waren Gott sei Dank über alle Schikanen hinaus. Er wußte, sie würde dieses Wagnis nicht nur gebilligt, sondern es gefordert haben. Wie oft hatte sie gesagt: »Könnte der Junge doch in Freiheit aufwachsen!«
    Der Mähdrescher hielt neben dem Silowagen. Brockmüller drückte auf einen der vielen Schalter, und das Abtanken begann. Die Förderschnecke transportierte das Korn durch das schwenkbare Auslaufrohr in den Wagen. Es dauerte nur kurze Zeit. Dann ging es weiter, bahnauf, bahnab. Die zweite Entleerung fand zwanzig Minuten später statt, und dieser abermalige Ausstoß des Getreides war wie das Einläuten der letzten Phase.
    Es begann zu dämmern. Brockmüller sah mit Befriedigung, wie in der Ferne allmählich die Konturen verschwammen. Die Silhouette des Dorfes hätte, wenn ihm nicht jeder Meter der Kammlinie genau bekannt gewesen wäre, auch die eines kleinen Waldes sein können. Er blickte hinüber zu dem Hof, den er zwölf Jahre lang bewirtschaftet hatte. Es gab da, dachte er, auch glückliche Zeiten, das Werben um Marianne zum Beispiel, altmodisch, mit viel Respekt. Die Hochzeit. Die ersten gemeinsamen Jahre auf der LPG. Das Glück, resümierte er, kam immer nur auf im Privaten, und wir mußten es verteidigen gegen die Macht und die Dummheit, die von außen drohten.
    Abermals ein Schwenk, eine neue Bahn. Wenn ich jetzt wieder oben angekommen bin, überlegte er, ist es nur noch einmal runter und rauf.
    Die letzte Kehre. Er warf einen Blick auf den etwa zweihundert Meter entfernten Turm, konnte aber die Posten schon nicht mehr ausmachen. Er schaltete die Lampen ein, merkte, daß er schneller geworden war, ging sofort wieder herunter mit der Geschwindigkeit.
    Er erreichte erneut den Silowagen, schwenkte das Rohr, und wie ein kleiner Wasserfall rauschte gleich darauf das Korn heraus, ergoß sich in den Wagen.
    Er kletterte aus der Kanzel, trat an die Fuhre. Der Gipfel des Kornhaufens ragte über die Wände hinaus. Er zog die Plane und auch eine Harke unter dem Wagen hervor, ebnete mit der umgedrehten Zinkenleiste die Ladung und warf dann die Plane darüber, zurrte sie an den Ecken fest, legte die Harke zurück. Er machte alles mit ruhigen, ausgewogenen Bewegungen. Auch wenn er die Männer auf dem Turm nicht sehen konnte, war ihm doch bewußt, daß sie mit Hilfe ihrer Nachtgläser imstande waren, jeden seiner Handgriffe zu verfolgen. Ob sie es taten, war nicht sicher, aber er mußte damit rechnen.
    Er bestieg wieder die Fahrerkabine, startete. Zunächst ging es vom Feld herunter und dann in Richtung auf seinen Hof. Er fuhr sehr langsam. Noch war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher