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1913

1913

Titel: 1913
Autoren: Florian Illies
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bezauberndsten Bewegungen der Stiefelspitze um ihre Aufmerksamkeit werben.« Woche für Woche erhielt die Katze fortan Zutritt zum Kolleg, als sie kränkelte, durfte sie mit Wickelkompressen auch auf Freuds Couch liegen. Sie erwies sich als therapierbar.
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    Apropos kränkelnd. Wo steckt eigentlich Rilke?
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    Die Angst, dass sich 1913 als Unglücksjahr erweisen könnte, sitzt den Zeitgenossen im Nacken. Gabriele D’Annunzio schenkt einem Freund sein »Martyrium des Heiligen Sebastian« und datiert es in der Widmung lieber vorsorglich als »1912 + 1 «. Und Arnold Schönberg hält den Atem an angesichts der Unglückszahl. Nicht ohne Grund erfand er die »Zwölf-Ton-Musik« – eine Grundlage der modernen Musik, geboren auch aus dem Schrecken ihres Schöpfers vor dem, was danach kommen würde. Die Geburt des Rationalen aus dem Geist des Aberglaubens. In Schönbergs Stücken kommt die Zahl »13« nicht vor, nicht als Takt, kaum einmal als Seitenzahl. Als er mit Entsetzen merkte, dass seine Oper über Moses und Aaron 13 Buchstaben haben würde, strich er Aaron das zweite a, und so heißt sie seitdem »Moses und Aron«. Und nun also ein ganzes Jahr im Zeichen der Unglückszahl. Schönberg wurde an einem 13 . September geboren – und es trieb ihn die panische Angst um, an einem Freitag, dem 13 . zu sterben. Aber es half alles nichts. Arnold Schönberg starb an einem Freitag, dem 13 . (allerdings erst 1913 + 38 , also 1951 ). Doch auch 1913 wird für ihn noch eine schöne Überraschung bereithalten. Er wird öffentlich geohrfeigt. Aber der Reihe nach.
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    Nun erst einmal: Auftritt Thomas Mann. Am frühen Morgen des 3 . Januar setzt sich Mann in München in den Zug. Er liest erst ein paar Zeitungen und Briefe, blickt hinaus auf die schneebedeckten Hügel des Thüringer Waldes, nickt dann im überheizten Abteil immer wieder ein über den sorgenden Gedanken um seine Katia, die schon wieder zu einer Kur in die Berge aufgebrochen ist. Im Sommer hatte er sie in Davos besucht und im Wartezimmer des Arztes hatte er plötzlich eine Idee für eine große Erzählung gehabt, doch jetzt kommt sie ihm sinnlos vor, zu weltabgewandt, diese Sanatoriumsgeschichte. Na ja, jetzt würde ja erst einmal in ein paar Wochen sein »Tod in Venedig« erscheinen.
    Thomas Mann sitzt im Zug und sorgt sich um seine Garderobe, ärgerlich, dass die langen Zugfahrten immer diese Druckfalten an den Kleidern hinterlassen, er würde den Mantel nachher im Hotel noch einmal aufbügeln lassen müssen. Er steht auf, schiebt die Abteiltür zur Seite und beschließt, ein wenig auf und ab zu gehen. So steif, dass die anderen Gäste immer denken, der Schaffner kommt. Draußen fliegen die Dornburger Schlösser vorbei, Bad Kösen, die Weinhänge der Saale, tiefverschneit, die Rebenreihen ziehen sich wie Zebrastreifen die Hänge empor. Hübsch eigentlich, aber Thomas Mann spürt, wie die Angst in ihm hochsteigt, je näher er Berlin kommt.
    Er lässt sich, als er den Zug verlassen hat, sogleich ins Hotel Unter den Linden fahren und schaut an der Rezeption umher, ob er denn auch erkannt werde von den anderen Gästen, die hinter ihm zu den Aufzügen drängen. Dann bezieht er sein Zimmer, dasselbe wie stets, um sich aufwendig neu einzukleiden und seinen Schnurrbart noch ein wenig zu kämmen.
    Im Grunewald, tief im Westen der Stadt, bindet sich zur selben Stunde Alfred Kerr im Ankleidezimmer seiner Villa in der Höhmannstraße 6 seine Fliege und zwirbelt die Enden seines Schnurrbartes kampfeslustig empor.
    Um zwanzig Uhr soll ihr Duell beginnen. Um Viertel nach sieben steigen beide in ihre Droschken. Sie fahren zu den Kammerspielen des Deutschen Theaters, gleichzeitig treffen sie ein. Und ignorieren sich. Es ist kalt, schnell eilen beide hinein. Einst in Bansin am Ostseestrand, aber das muss unter uns bleiben, da hatte er, Alfred Kerr, Deutschlands größter Kritiker und eitelster Fatzke, um Katia Pringsheim geworben, die reiche Jüdin mit den Katzenaugen. Doch sie hatte ihn, den gedankenwilden, stolzen Breslauer, abgewiesen und sich Thomas Mann an die Brust geworfen, diesem stocksteifen Hanseaten. Unbegreiflich eigentlich. Aber vielleicht konnte er es ihm ja heute Abend heimzahlen.
    Thomas Mann setzt sich in die erste Reihe und versucht gravitätische Ruhe auszustrahlen. Heute Abend hat seine »Fiorenza« Berliner Premiere in Berlin, das Buch, das er schrieb, als er Katia liebenlernte. Aber er ahnt, dass es heute ein Debakel geben könnte, das Stück war seit langem
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