Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
164 - Der vielarmige Tod

164 - Der vielarmige Tod

Titel: 164 - Der vielarmige Tod
Autoren: Ronald M. Hahn
Vom Netzwerk:
ab.
    »Erzähl mir lieber über dich. Wo kommst du her?«
    »Meine Heimat«, sagte Pofski, als sie das Gebäude betraten, »wurde von einem Erdbeben vernichtet. Es war schrecklich! In Tscherskij gibt es nur noch Geister. Wer das Unglück überlebt hat, ist übers Meer nach Westen gefahren.« Er deutete ins Freie. »Mich hat es ins Katastrophengebiet gezogen. Ich werde es für die nachfolgenden Generationen kartographieren.«
    In der Hütte standen gedeckte Tische, an denen Frauen saßen, die sich mit trillernden Stimmen unterhielten. Aruulas Blick fiel auf exotische Früchte und süß duftenden Tee in irdenen Bechern. Die drei Männer saßen abseits und taten so, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Dabei hätte man blind sein müssen, um nicht zu sehen, dass die Aruula mit Blicken förmlich verschlangen.
    Indiira kam heran und reichte ihr einen der Teebecher. Die Barbarin nickte dankbar und nahm einen Schluck. Das Getränk schmeckte süß und hinterließ einen leicht pelzigen, aber nicht unangenehmen Geschmack auf der Zunge.
    »Und wie sieht es im Katastrophengebiet aus?« Aruula nahm an, dass Pofski den Kratersee meinte. Dort hatte eine gigantische Explosion zum Tod zahlloser Menschen und anderer Lebewesen geführt.
    »Unbeschreiblich. Es ist riesig! Ich hab Monate gebraucht, um es im Ballon zu umfahren.«
    »Hast du überlebende Daa'muren gesehen?«
    »Daa'muren?«
    »Die aufrecht gehenden Echsenwesen, die den Kraterrand bewohnten«, präzisierte Aruula.
    »Ach, die«, machte Pofski. »Hab schon von denen gehört. Manche behaupten gar, die Viecher kämen aus dem Weltenraum… so ein Unsinn! – Nein, von denen hab ich keine gesehen. Ich war aber auch nicht innerhalb des Kraters; zu gefährlich. An vielen Stellen ist die Erde aufgerissen, und die hervorquellende Lava sorgt für tückische Aufwinde.«
    »Wie interesch… sch… ant.« Aruulas Zunge war plötzlich eigenartig schwer, und ihre Kehle trocken. Sie nahm noch einen Schluck süßen Tee und folgte Pofski dann an den Tisch, an dem Indiira und zwei weitere Schönheiten saßen.
    Das Knurren ihres Magens klang wie das eines Lupa. Und die Frauen zwitscherten wie Vögel. Die Männer nickten sich zu. Keiner sprach ein Wort, doch Aruula glaubte zu hören, dass sie einstimmig dachten: Die da! Die ist es!
    Dann dachte sie an die Reptilien im Fluss, an den armen Pushnik und ihre verlorenen Satteltaschen. Wenn sie keinen reichen Gönner fand, war sie ohne jede Ausrüstung in dieser Wildnis aufgeschmissen…
    Indiira lächelte sie an, bat sie Platz zu nehmen und füllte ihren Becher mit neuem Tee.
    Oder eine Gönnerin…
    Kapitän Pofski räusperte sich. »Hab ich einen Kohldampf! Komm, Aruula, lass uns was futtern…«
    ***
    Ihr Geist verharrte an einer Schwelle, hinter der er Leben und Helligkeit spürte. Doch eine Kraft, die sich in Aruulas Hinterkopf eingenistet hatte, ließ ihn nicht weitergehen.
    Dumpfe Trommelschläge hallten durch die Finsternis.
    Aruula spürte das Gedröhn in allen Zellen ihres Leibes. Da-wumm… Da-wumm… Da-wumm…
    Sie flog, Arme und Beine ausgestreckt, durch eine makellos schwarze Nacht. Was war für diesen Alptraum verantwortlich?
    Waren betäubende Substanzen in dem Tee gewesen? Oder gar Alkohol?
    Aruulas Augen öffneten sich eine Sekunde lang. Indiiras glückselig lächelndes Gesicht tauchte vor ihr auf.
    Indiira schlief.
    Sie war unbekleidet.
    Oder fast unbekleidet.
    Sie lag auf einer Matratze in einer Hütte. Als Aruula verwirrt die Lider wieder zuklappte, verschwand das Bild und andere nahmen seine Stelle ein. Momentaufnahmen. Der vergangene Abend. Süßer Tee aus dunkelblauen Flaschen.
    Tabakschwaden. Worte.
    Eine von Indiiras Mägden sprach eine Sprache, die Pofski ebenfalls beherrschte. Sie hatten endlos getrunken und geschwafelt. Eins wusste Aruula nun: Das hier war kein Fort, kein Dorf, kein Gut. Es war ein Rasthaus.
    Und es gehörte Indiira. Die anderen Frauen und Mädchen waren ihre Verwandten. Die drei Männer waren Gäste.
    Reisende. Jäger. Genaues wusste niemand.
    Pofski hatte die Magd viel gefragt. Aruula hatte nicht alles gehört, noch weniger verstanden und längst nicht alles behalten. Die beiden hatten großen Spaß gehabt und viel gelacht. Auch Aruula hatte gelacht. Aber sie hatte sich der vorwitzigen Hände Indiiras erwehren müssen, die jede Gelegenheit genutzt hatte, sie zu betatschen.
    Und jetzt…
    Aruula öffnete erneut die Augen. Sie lag wirklich neben Indiira auf der Matratze. Sie wusste nicht, wie sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher