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1293 - Desothos Geschenk

Titel: 1293 - Desothos Geschenk
Autoren: Unbekannt
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begreifen."
    Sie fielen ihm jubelnd um den Hals und küßten ihn. Verlegen entzog er sich ihnen und hastete weiter.
    „Es gibt Frieden", brüllte er zu einigen Frauen hinauf, die ihn aus den oberen Fenstern eines Hauses herab beobachteten. „Frieden!"
    „Es ist nicht ungefährlich", gab sein greiser Vater zu bedenken, nachdem er ihm und seiner Mutter berichtet hatte, was geschehen war.
    „Ungefährlich?" fragte Kanthorag-Kar fassungslos. „Was soll denn gefährlich daran sein, wenn ich die Fahne des Friedens hinaustrage auf das Feld und dem Friedensträger unserer Feinde sage, daß es keine Schlacht geben wird? Die da drüben werden sich genauso freuen wie wir."
    „Die Offiziere da drüben sind unberechenbar", erwiderte der Vater. Er war ein alter, gebeugter Mann, der Mühe hatte, die Augen offenzuhalten, weil die Nerven seiner Lidmuskeln nicht mehr ausreichend funktionierten. So machte er oft den Eindruck, daß er schlafe. Auf Kanthorag-Kar wirkte er krank und hilflos, und der Junge machte allzu oft den Fehler, daß er meinte, sein Vater sei auch geistig nicht mehr auf der Höhe. Daher begegnete er ihm häufig mit einem gewissen Mitleid, aber auch mit einem Gefühl der Überlegenheit. Er befaßte sich schon gar nicht mehr mit den Argumenten des Alten, weil er meinte, daß diese aus seiner Hilflosigkeit geboren seien.
    Er ergriff die blaue Fahne, die in einer Ecke des Zimmers lehnte, und eilte damit hinaus.
    Endlich war es ihm vergönnt, das Schlachtfeld zu betreten. Wie oft hatte er in den vergangenen Tagen davon geträumt, zusammen mit den anderen um Ehre und Freiheit kämpfen zu können. Man hatte ihn zurückgewiesen, weil er zu jung war. Jetzt aber war alles anders geworden. Man hatte ihm eine Aufgabe übertragen, die wichtiger war als alle anderen.
    Mit der Fahne rannte er zur Stadt hinaus. Als er die Soldaten erreichte, ging er langsam und würdevoll, so wie es seine Rolle verlangte.
    Keiner der Soldaten sprach, aber allen war die Erleichterung anzusehen. Sie waren froh und glücklich darüber, daß sie nicht kämpfen mußten.
    Als Kanthorag-Kar an der vordersten Reihe der Offiziere vorbeigekommen war, betrat er das leere Feld zwischen den beiden Heeren. Er sah, daß ihm vom anderen Heer ein Fahnenträger entgegen kam. Auch er trug eine blaue Fahne.
    Die Sonne schob sich über die Berge und tauchte das Feld in ein rötliches Licht.
    Unwillkürlich blickte Kanthorag-Kar zurück zu der Felswand, die senkrecht hinter der Stadt aufstieg, und er glaubte, hoch oben eine Gestalt erkennen zu können.
    Reiß dich zusammen, mahnte er sich. Da oben kann niemand sein. Außerdem sollst du nach vorn sehen.
    Schon bald konnte er den blonden Mann erkennen, der die andere Fahne trug. Er war etwas älter als er, und er schien ebenso erleichtert zu sein wie alle anderen Soldaten.
    Fünf Meter voneinander blieben sie stehen.
    „Ich bin Themer", stellte sich der andere vor, „und ich bin verdammt froh, daß sich diese alten Fettsäcke geeinigt haben. Ich habe nämlich keine Lust, mein Blut hier auf diesem Feld zu vergießen."
    Kanthorag-Kar war schockiert. Für ihn waren die Politiker ihrer beiden Völker hochangesehene Männer und Frauen, denen er eine gehörige Portion Respekt entgegenbrachte. Hatten sie sich nicht mit Erfolg bemüht, den Konflikt zu lösen?
    „Das hätte denen so passen können", fuhr Themer fort. „Wir schießen uns gegenseitig über den Haufen, bringen uns zu Tausenden um, und wenn alles vorbei ist und wir unter der Erde liegen, dann haken sie sich ein, paffen gemeinsam eine Zigarre und beschließen, voller Optimismus gemeinsam in eine bessere Zukunft zu blicken."
    „Ich bin froh, daß ich dir die Friedensfahne meines Volkes übergeben kann", entgegnete Kanthorag-Kar. „Es ist der stolzeste Augenblick in meinem Leben."
    „Hoffentlich kommt nicht noch irgendein Idiot auf den Gedanken, einen von uns abzuknallen", sagte Themer.
    „Warum sollte er?" lachte Kanthorag-Kar.
    „Bist du so naiv? Oder hast du keine Ahnung von dem, was bei früheren Kämpfen zwischen unseren beiden Völkern passiert ist?"
    „Doch. Ich weiß. Vor zweihundert Jahren ist einmal einer der Fahnenträger getötet worden."
    „Worauf sich die beiden Heere dann doch niedermetzelten." Themer seufzte. „Mensch, laß uns die Fahnen bloß schnell tauschen, und dann flitzen wir zu unseren Leuten zurück, bevor etwas passiert."
    „Einverstanden, Themer."
    In diesem Moment geschah es.
    Die Schußwaffe aus Themers Gürtel löste sich.
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