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123 - Auf dem Insektenthron

123 - Auf dem Insektenthron

Titel: 123 - Auf dem Insektenthron
Autoren: Susan Schwartz
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wagte es nicht, so wie niemand zu widersprechen wagte. Jeder Erwachsene hatte Verantwortung: für ein Kind, einen kranken Freund oder Partner. Jeder wusste, dass er allein stand, wenn er jetzt aufbegehrte, und dasselbe Schicksal erleiden würde wie der Einäugige und seine Freunde. Es würde nichts ändern, das Leben wurde genauso weitergehen. Es gab keinen Ausweg.
    »Drei Mal habe ich Gnade vor Recht ergehen lassen«, fuhr Mostroo fort. »Ja, zum vierten Mal ist der Einäugige hier vor Gericht, eurem Gericht, und muss der Wahrheit ins Gesicht blicken. Er nennt mich Verräter? Habe ich ihn nicht jedes Mal begnadigt und wieder in die Gemeinschaft zurückkehren lassen? Habe ich ihn nicht gekleidet und genährt, wie euch alle? Habe ich ihn nicht beschützt vor den Herren Aarachnes, so wie ich euch alle beschütze? Ich war es, der die Einigung erzielte, der sogar gegenseitige Unterstützung durchsetzte! Ich habe alles aufgegeben – für euch!«
    Er hob voller Theatralik die Hände. »Verlange ich denn viel für das, was ich tue? Nein, Freunde. Nur ein wenig Anerkennung, und Unterstützung. Alles was ich tue, tue ich nur für euch! Ich sichere das Überleben unseres Volkes, seit ich ein Stillhalteabkommen geschlossen habe mit dem Feind! Wir geben, und dafür geben sie auch uns. Es ist schwer für uns alle, ich weiß das. Deshalb übernehme ich ja die schwere Last der Verantwortung!«
    Der Einäugige richtete sich mühsam auf, trotz der Fesseln.
    Belle legte die Hand vor den Mund, als sie sein blutüberströmtes, verschwollenes Gesicht sah. Er geht zu weit, dachte sie. Diesmal geht Mostroo zu weit. Wir dürfen das nicht zulassen. Sie blickte sich um, aber die Gesichter der meisten Leute waren müde und abgestumpft. Sie waren froh, nicht an der Stelle des Einäugigen zu sein. Niemand würde etwas unternehmen.
    Belle kämpfte mit sich. Trotz aller Sorge um Lisi wollte sie nicht zulassen, dass Mostroo seinen Herrschaftsanspruch auf Kosten der eigenen Leute deutlich machte. Aber was sollte sie tun? Vielleicht, wenn sie nach vorne ging und Mostroo ablenkte, vielleicht kam er zur Vernunft… ihr würde er so schnell nichts tun…
    Bevor Belle einen Schritt machen konnte, spürte sie, wie jemand sie am Arm festhielt. Hela, deren Sohn in Lisis Alter war. »Mach keinen Unsinn, Belle!«, zischte sie. »Ich kenne diesen Gesichtsausdruck! Mach dich nicht unglücklich.«
    »Ich kann das nicht zulassen, Hela, dieser größenwahnsinnige…«
    »Er hat in Einem Recht: Wir haben einen schwankenden Frieden. Jeden Moment können die Insekten es sich anders überlegen, und dann haben wir alle verloren. So schrecklich es auch ist, aber Einauge hat genau gewusst, was ihm blüht, wenn er wieder ausbricht! Und genauso seine Freunde. Es konnte auf Dauer nicht gut gehen. Wir aber müssen an unsere Kinder denken! Wir haben einfach keine Wahl. Tu es nicht, Belle, ich beschwöre dich, du vergrößerst das Unglück nur noch!«
    Belle gab nach, zitternd und verzweifelt. Sie starrte den Einäugigen an, der seinen fast zahnlosen Mund weit öffnete – und lachte! Mit heiserem Krächzen rief er: »Du bist ein armseliger Wicht, Mostroo. Was immer du auch mit mir tust, werde ich dennoch frei sein, denn dir unterwerfe ich mich nicht. Ich habe es jahrelang versucht, aber es ist vorbei. Ich konnte mich selbst nicht aufgeben, und ich habe keine Angst mehr. Denn ich bin schon tot, und damit endlich frei.«
    Ein Stöhnen ging durch die Menge, als ein Gehilfe Mostroos seine Kette auf ihn niedergehen ließ, wieder und wieder auf den geschundenen Körper eindrosch, bis der Einäugige auf der Erde lag und sich nicht mehr rührte. Seinen drei Freunden erging es nicht besser. Anschließend verkündete Mostroo, dass das Urteil diesmal auf Tod lautete und die vier Delinquenten jetzt der höheren Gerichtsbarkeit übergeben würden.
    Was das bedeutete, konnte sich jeder denken. Die Menschen wichen zurück, jeden Moment zur Flucht bereit. Mostroos Gehilfen zerrten die vier Körper näher an eine im Halbdunkel liegende, halbwegs intakte Hauswand heran und zogen sich dann zurück. Es dauerte nicht lange, bis ein Schnarren, Klicken und Summen aus dem Dunkel drang. Und dann kam etwas hervor, das noch schwärzer war als die Nacht, eine wimmelnde, amorphe, auseinanderfließende Finsternis, die sich in rasender Schnelligkeit über die vier Körper ausbreitete und sie bedeckte. Nicht einmal eine Minute später war der Platz vor der Wand wieder leer und verlassen, und kein Laut mehr
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