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0885 - Die Kralle des Jaguars

0885 - Die Kralle des Jaguars

Titel: 0885 - Die Kralle des Jaguars
Autoren: Simon Borner
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fragenden Blick sah, erklärte er: »Was wir hier vor uns haben, bekommen Sie in Europa an jeder Ecke, in jeder Kantine, fünf Tage die Woche. Ich war erst kürzlich wieder dort, zu Recherchezwecken für meinen Vortrag. Und nun, tausende von Kilometern und einige Flugstunden entfernt, gibt's gleich die nächste Portion. Als wäre dazwischen nichts gewesen.« Er musste lachen.
    Sie saßen in einer großen und extrem schmucklosen Halle, deren Architekt wohl ein besonderes Faible für Beton gehabt haben musste. Im grellen Licht großer Neonröhren, die von der silberfarbenen Decke hingen, reihte sich Holztisch an Holztisch. Einige Blumenkästen voller mickriger Zimmerpflanzen mühten sich redlich darum, einen Hauch von Raumteilung zu vermitteln, scheiterten aber bereits im Ansatz kläglich. Und überall saßen, schwatzten und aßen Studenten. Die wenigen Tagungskollegen, die Zamorra ausmachen konnte, passten genauso wenig ins Bild, wie das Wiener Schnitzel in die mexikanische Küche.
    »Ich fürchte, daran sind wir Schuld«, sagte Montejo und schmunzelte. »Als die Universitätsleitung von unserer Tagung und deren internationalen Teilnehmern erfuhr, ordnete sie ein Menü aus fremdländischen Spezialitäten an. Soweit ich weiß, gibt es morgen… wie spricht man das aus?« Er griff in seine abgewetzte Ledertasche, die neben ihnen auf dem Tisch lag, entnahm ihr eine Wochenspeisekarte und schob sie zu Zamorra herüber.
    »Hachi Parmentier«, seufzte der Professor, als er den Eintrag des Folgetages sah. »Hackfleisch mit Kartoffelpüree. Auch ein Kantinenklassiker, nur diesmal ein französischer.« Um wirklich mexikanische Spezialitäten zu genießen, würde er den Campus wohl verlassen müssen.
    »Also, Señor Montejo, was wollten Sie mit mir besprechen?« fragte Zamorra und begann, sein Schnitzel zu zerteilen. Abermals griff Montejo in seine Tasche und entnahm ihr ein in Leder gebundenes, abgewetztes kleines Buch. Dem Aussehen nach hatte es schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel, wenn nicht noch mehr.
    »Das hier.«
    Zamorra wischte sich die Hände an der Papierserviette ab und griff vorsichtig nach dem vergilbten Notizbuch. Offenbar handelte es sich um ein Tagebuch, wie man es im vorletzten Jahrhundert benutzt hatte. Es war in weiches Leder eingebunden, vermutlich Kalbsleder. Zamorra begann beinahe ehrfürchtig darin zu blättern. Die Handschrift war auffällig. Während immer wieder ruhige Passagen darin vorkamen, die in einer geraden und peniblen Schrift ausgefüllt waren, wurde die Handschrift an manchen Stellen krakelig, ja, beinahe unleserlich.
    »Es handelt sich um einen Reisebericht aus dem Jahr 1837, der mir gestern zugestellt wurde«, Montejo fuhr fort. »Ein Brief des schottischen Lords Duncan McArdbeg war beigelegt, der besagt, dass sein Urahn, der schottische Forscher, Connor McArdbeg, dieses Tagebuch verfasst hat und er es nun der Universität vermachen will. Er selbst wollte es wohl loswerden.«
    »Ich habe noch nicht das Gefühl, in Sicherheit zu sein«, las Zamorra halblaut den ersten Satz. McArdbeg schien ein Händchen für packende Einleitungen gehabt zu haben.
    »Connor schreibt von einer Expedition, die ér für die Londoner Royal Geographie Society in Honduras durchgeführt hat, genauer gesagt in den Maya-Tempeln von Copán.« Montejo flüsterte beinahe, so beeindruckt schien er von dem Dokument zu sein. »Zunächst verlief auch alles ganz normal, doch dann…«
    Er setzte ab, atmete tief ein. Dann richtete er sich auf und blickte Zamorra fest in die Augen. »Ich bitte Sie, nehmen Sie sich den Bericht bis morgen mit und lesen Sie ihn. Danach können wir reden. Wie ich bereits sagte: Er ist Ihre Zeit wert, das versichere ich.«
    Zamorra dachte an Shore und daran, wie unfreundlich und unkollegial er zu dem amerikanischen Wissenschaftler gewesen war. Nein, er würde mit Montejo nicht genauso umgehen. Wer weiß, vielleicht steckt ja irgendeine interessante Geschichte dahinter. Er griff nach dem Buch und verstaute es vorsichtig in der Innentasche seiner weißen Anzugjacke. »In Ordnung, aber dann entscheide ich, wo wir morgen essen.«
    »Einverstanden«, antwortete Montejo lachend, als ein breit grinsender Professor Zamorra theatralisch in ein von öligem Dressing tropfendes Salatblatt biss.
    ***
    Ich kam vor sechs Wochen im Auftrag der Geologischen Gesellschaft Londons hierher. Ruhm wollte ich, auf den Spuren der großen Entdecker unserer Zeit wandeln: Mackenzie, Mungo Park, Humboldt, Baranow. Noch hat
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