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0858 - Missgeburt

0858 - Missgeburt

Titel: 0858 - Missgeburt
Autoren: Christian Montillon
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hatte.
    Lhitt'har erinnerte sich noch genau an jenen Moment. Vom ersten Augenblick an hatte er geahnt, dass dieser Fund sein Leben verändern würde. In der Tat hatte der Knochenfund seine Existenz maßgeblicher beeinflusst als alles andere.
    Seine Gedanken schweiften ab. Kehrten in die Vergangenheit zurück. Wieder meinte er den bleichen Knochen in Händen zu halten, die kühle, raue Oberfläche zu spüren, die sich wie die…
    Wie die Schale eines Wekages anfühlt, denkt Lhitt'har.
    Der junge Priest er anwärt er leckt sich unbewusst mit der Zunge über die Oberlippe, als ein salziger Schweißtropfen in den Mundwinkel rinnt.
    Er starrt das gelblich-weiße Ding an, über das er förmlich stolperte. Es ist etwa so lang wie sein Unterarm, nur merklich dicker. »Ein Knochen«, sagt Lhitt'har, wiederholt es und horcht dem Klang jeder einzelnen Silbe nach: »Ein Knochen.«
    Tief in seinem Inneren steigt ein Lachen auf, mächtig und unaufhaltsam.
    Wonach die Wissenschaftler seit Jahrhunderten suchen - er hat es gefunden. Per Zufall.
    Zufall?
    Nein! Er glaubt nicht an Zufall. Hat man ihn das nicht von Beginn seiner Ausbildung an gelehrt?
    Es gibt keinen Zufall, lautet der dritte Satz der Offenbarung, außer dem einen: Göttliche Gnade wird dem zufallen, der den rechten Weg geht. Da es Lhitt'har nicht einmal im Traum einfällt, an einem der grundlegenden Sätze zu zweifeln, ist nur eine Schlussfolgerung möglich.
    Er ist ein Berufener.
    Er ist dazu auserkoren zu beweisen, dass es die Großen Kreaturen der Vergangenheit tatsächlich gegeben hat. Eine Aufgabe, die sein Leben auf den Kopf stellen wird. All sein Denken, sein Streben und Verlangen wird ab sofort nur noch darum kreisen dürfen.
    Lhitt'har schwindelt. Zum ersten Mal werden ihm die Konsequenzen bewusst. Oder beginnt er zu ahnen, welche Konsequenzen sich am Horizont abzeichnen.
    Bald wird jeder seinen Namen kennen. Bald wird er einer derjenigen sein, die vor der Kommission stehen. Und es kann wohl keinen Zweifel geben, wie die Entscheidung der obersten Lebensrichter ausfallen wird.
    DEN TOD FÜR LHITT'HAR, werden sie sagen, UND DAS LEBEN.
    Denn seine Aufgabe ist viel zu gewaltig, um sie in der lächerlich kurzen Zeitspanne bewältigen zu können, die ihm von Natur aus zur Verfügung steht. Die Richter werden ihm Leben nach dem Tod zusprechen müssen.
    Wunderbar.
    Traumhaft.
    Millionen streben ihr Leben lang danach, dieses Ziel zu erreichen. Alles geben sie dafür her, intrigieren und bestechen… begehen Verbrechen und schrecken sogar vor Mord nicht zurück, wenn es ihren Absichten dienlich ist.
    Lhitt'har hingegen hatte von Anfang an einen anderen Weg eingeschlagen. Ihm war es nicht darum gegangen, eines Tages vor die obersten Lebensrichter zu treten und von ihnen Leben nach dem Sterben zugesprochen zu bekommen. Er hatte für seine Existenz andere Ziele angestrebt - spirituelle Selbstverwirklichung und den Dienst am anderen.
    Ist das nicht herrlich?, denkt er. Ohne mich darum zu bemühen, erringe ich das, für das die meisten alles geben würden.
    Eine glückliche Fügung.
    Er macht sich auf den Heimweg, bricht die Pilgerreise vorzeitig ab. Er sucht den Platz der zentralen Verkündigung auf und wartet auf den geeigneten Moment.
    Als sich gegen Abend Tausende versammeln und damit die kritische Grenze überschritten ist, die seinen Worten genügend Zuhörer verschafft, ergreift er das Wort.
    »Es fügte sich«, schreit er, »es fügte sich, dass ich in der Wüste auf den ultimativen Beweis stieß! Es gibt sie, die Großen Kreaturen der Vergangenheit! Und ich werde ihr Geheimnis entschlüsseln und damit das Tor in die Vorzeit aufstoßen. Wir werden erfahren, woher wir kommen und wie wir einst entstanden sind!«
    Seine Worte bewirken noch mehr Aufruhr, als er es für möglich gehalten hätte. Ein Aufschrei gellt über der Menge, Hunderte Arme werden nach oben gerissen, Tausende Füße trampeln ein hämmerndes Stakkato.
    Die Massen toben.
    Der Augenblick des höchsten Triumphes für Lhitt'har. Er sieht weit aufgerissene Augen, zu Fratzen verzerrte Gesichter - Masken der Wut, aber auch der Begeisterung. Und der Bewunderung. Sie beneiden ihn. All die Männer, all die Frauen… die Frauen besonders.
    ***
    Sie sehen zu ihm auf.
    Er kann sie alle haben, wenn er will.
    Wahrscheinlich wird er sich einige aussuchen und die Früchte seines Triumphes genießen, solange er noch leibliche Freuden genießen kann. In der Existenz nach dem Tod, heißt es, stehe einem danach nicht mehr
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