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061 - Im Reich der Tausend

061 - Im Reich der Tausend

Titel: 061 - Im Reich der Tausend
Autoren: Ronald M. Hahn
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Treppe. Wenn man in die Welt hinaus wollte, musste man die Treppe hinaufgehen. Oben angekommen, nahm man zuerst einen großen Haufen Menschenknochen wahr. Drehte man sich dann um, konnte man das Stadthaus und viele andere Häuser sehen, die aber kaputt waren, weshalb die verdienten Gelehrten des Reiches sie »Ruinen« nannten. Dort oben war alles voller Schnee, weil es in der Welt sehr oft schneite. Und es war kalt. Manchmal auch sehr kalt, besonders dann, wenn der frostige Wind durch die Häuserschluchten pfiff.
    An der untersten Treppenstufe löschte Nikolaai die Laterne und stellte sie auf den Boden. Aus der Welt fiel ein wenig Licht zu ihm herunter. Er ging hinauf. Als er die letzte Stufe hinter sich gebracht hatte, sah er leuchtende Pünktchen am Himmel. In der Pöbelschule hatte er gelernt, dass man sie »Sterne« nannte. Als er sich umdrehte, fegte ihm ein Wind ins Gesicht, der so kalt war, dass er seine - vermutlich - adelige Herkunft vergaß und das Wort ausspuckte, das die Späher des Zaren in unvorteilhaften Situationen am meisten verwendeten: »Bljath!«
    Rings um Nikolaai ragten, im Schneegestöber freilich nur schwach und verschwommen sichtbar, große und kleine Ruinen auf. Die kleinen Ruinen waren, wie er wusste, in der Ära vor der Herrschaft Viktoors ebenfalls groß gewesen. Nun waren sie klein, weil sie kaputt gegangen waren. Die hohen Ruinen waren zwar meist auch kaputt, aber nicht ganz.
    Eine große Ausnahme stellte das Stadthaus dar, in dem die Bürger des Reiches lebten.
    Seine Fenster waren aus unzerbrechlichem Glas und deswegen alle noch heil. Ging man um das Stadthaus herum, stieß man auf ein gigantisches zugemauertes Portal, über dem in Stein geschlagenen Buchstaben MERRIL BUILDING stand. Darunter in etwas kleinerer Schrift: ERBAUT 2010.
    Nikolaai hatte sich all dies oft angeschaut und sich gefragt, was die Ziffern bedeuteten.
    Lesen konnte er ganz gut; im Gegensatz zu dem faulen Aljooscha war er nämlich nicht nach der dritten Klasse von der Pöbelschule abgegangen, sondern hatte tapfer bis zur fünften ausgeharrt. Als Limonka hatte er einst Gelegenheit gehabt, den verdienten Gelehrten Stepaan nach der Bedeutung der rätselhaften Ziffern zu befragen und sich erkundigt, warum nur das Stadthaus mit so widerstandsfähigen Fenstern ausgerüstet war. Der Gelehrte hatte daraufhin von »Krug«, »Religjon« und »Terristen« erzählt und von der Angst der Menschen vor Anschlägen. Damit sie sicherer vor diesen »Terristen« waren, hatten sie das Stadthaus gebaut; es sollte eine Festung sein.
    Dass Nikolaai die Worte des verdienten Gelehrten nicht verstanden hatte, war wohl darauf zurückzuführen, dass ihm das Wissen um die Zusammenhänge fehlte. Doch sein Interesse an diesen Dingen blieb ungebrochen. Ja, er interessierte sich, im Gegensatz zu seinen ehemaligen Klassenkameraden, wirklich für Dinge, die sonst keine Kakerlake interessierte - abgesehen natürlich von den Gelehrten und dem Zaren, der gütig über das Reich der Tausend herrschte.
    Brrrt… Brrrt… Brrrt…
    Nikolaai, der in Gedanken versunken dem vorgeschriebenen Kurs seiner täglichen Patrouille folgte, zuckte zusammen.
    Was war das? Er duckte sich instinktiv, und sein scharfer Späherblick bemühte sich, das Schneegestöber zu durchdringen. Das merkwürdige Geräusch, das da urplötzlich an seine Ohren gedrungen war, verstummte.
    Nikolaai schaute sich um. Woher war es gekommen? Von da drüben? Er war sich ziemlich sicher, dass es aus der Straße gekommen war, die der zum Baanhof führenden Treppe schräg gegenüber lag. Unbekannte Geräusche, das hatte Lejtenant Iwaan ihm und den anderen Rekruten während der Ausbildung eingebläut, waren die Ursache vieler Übel.
    Andererseits erinnerte ihn das Geräusch an Motorengebrumm. Motoren gab es auch im Reich - zum Beispiel in den Hydroponikgärten, in denen das Gemüse heranwuchs, das reichlich bewässert werden musste, bevor es auf den Tisch kam. Die Motoren in den Hydroponikgärten, so wusste Nikolaai, erhitzten den Schnee, den man dort schmolz, und trieben die Pumpen an. Auch in der Energieversorgung - im Kristallraum - gab es brummende Motoren. Oder nannte man diese Dinger Generatoren?
    Motorengeräusche waren keine unbekannten Geräusche. Allerdings gab es Motoren nur im Reich. Oder? Hier, in der Welt, hatte Nikolaai noch nie Motoren brummen hören. In der Welt heulte und pfiff es eigentlich nur. Manchmal krachte es auch, zum Beispiel, wenn eine altersschwache Ruine zusammenfiel
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