Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
061 - Im Reich der Tausend

061 - Im Reich der Tausend

Titel: 061 - Im Reich der Tausend
Autoren: Ronald M. Hahn
Vom Netzwerk:
Nikolaais Fingernägel anschaute und nachprüfte, ob er sich den Hals gewaschen hatte. Nikolaai wusste nicht genau, wieso saubere Fingernägel und ein gewaschener Hals für einen Späher wichtig waren, aber das Verfahren hatte Tradition: Viktoor, der allererste Zar, der über das Stadthaus geherrscht hatte, war laut Überlieferung ein sehr ordentlicher Mann gewesen, deswegen hatte man ihm auch den Beinamen »der Ordentliche« verliehen. Viele Vorschriften, die Zar Viktoor erlassen hatte, galten noch heute. Den Grund dafür hatte Nikolaai in der Pöbelschule gelernt: »Lebt man in einem extremen Klima, ist die Befolgung von Regeln lebenswichtig!«
    Zwar konnte sich Nikolaai wenig unter einem extremen Klima vorstellen, da die zaristischen Späher nur zwischen kalt, sehr kalt und sehr, sehr kalt unterschieden, aber er vermutete, es hatte etwas mit den Schneestürmen zu tun, die die Welt regelmäßig heimsuchten. Um sie zu überleben, musste man sich schon an gewisse Regeln halten.
    Ebenso lebenswichtig war es, den Zaren zu lieben, der über das gewaltige, zehn Stockwerke und zehn Kelleretagen umfassende Reich herrschte, den Offizieren in jeder Hinsicht die Ehre zu erweisen und immer aufrichtig zu sein: Die siebente Schwester des Zaren war nämlich eine verdiente Foltermeisterin. Sie hatte eine Nadel. Stach sie die einem Menschen in den Arm, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen.
    Und wehe ihm, er hatte zuvor gelogen! Dann war er geliefert und diente der Zarenfamilie als Köder für die Weißen Brüller.
    »Jetzt die Ohren!«, befahl der Einsatzoffizier. Sein Name war Iwaan. Er war Lejtenant und einer der siebzehn illegitimen Enkel des Zaren.
    »Nu vot… nu vot… nu vot… eh, kak skasath…«, sagte Nikolaai und errötete vor Scham.
    Wie peinlich! Die Ohren hatte er heute vergessen. Aber sie schienen sauber zu sein, denn die Prüfung fiel positiv aus. Der Einsatzoffizier klopfte ihm kollegial auf die Schulter, wandte sich dem Eisenregal an der Wand zu und händigte Nikolaai die Dienstwaffe aus, eine zwanzigschüssige, ehemals silberne, nun leicht oxydierte Pistole der Marke Brünna.
    »Druschba, Tovarisch Nikolaai.«
    Nikolaai errötete vor Stolz und knallte die Hacken zusammen. »Druschba, Tovarisch Lejtenant!« Es kam nämlich nur sehr selten vor, dass ein Offizier, ein Mann von Adel, einen in seinen Augen gewöhnlichen Späher als »Genösse« bezeichnete.
    Gleich darauf führte Lejtenant Iwaan Nikolaai an die so genannte Schleuse - eine dicke eiserne Tür. Dahinter befand sich ein zehn Quadratmeter großer Raum, der wiederum an einer Eisentür endete. Iwaan blieb stehen, tippte lässig an seine räudige Pelzmütze und verabschiedete den jungen Mann mit den vorgeschriebenen zeremoniellen Worten.
    »Lass dich nicht von Taratzki ficken.«
    Wie gesagt, im Reich der Tausend hatten nicht alle Menschen Kultur. Und die Offiziere, die durch die Bank mit dem Herrscher verwandt waren, hatten die wenigste.
    »Der Zar steh mir bei«, murmelte Nikolaai. Auch dies waren zeremonielle Worte. Er zog sich die Pelzmütze über die Ohren, kuschelte sich in den warmen und flauschigen Dienstmantel aus dem weißen Fell eines Weißen Brüllers und trat mit der Laterne in der Hand in Finsternis und Mörderkälte hinaus.
    Das äußere Schleusentor war kaum hinter ihm zugefallen, als sich Nikolaai in Bewegung setzte. Der Ort, an dem er sich nun befand, lag unter der Oberfläche der Welt und hieß in der Altsprak »Harbour Ferry Dock«. Die Späher nannten ihn jedoch aus irgendeinem nicht überlieferten Grund »Baanhof«. Nikolaai wusste nicht, wozu ein Baanhof diente; für ihn sah er aus wie ein breiter Korridor, über dessen Boden vier rostige Eisenstangen verliefen. Linkerhand endeten sie nach hundert Metern vor einer glatten Wand an einem so genannten »Prellbok«, rechts verschwanden sie in einem dunklen Schacht.
    Als Nikolaai noch ein echter Limonka gewesen war - inzwischen lag das zweite Späherjahr hinter ihm, so dass er sich dieses Wort nicht mehr gefallen zu lassen brauchte -, waren er und einige andere Rekruten an der Seite des verdienten Gelehrten Stepaan zu einer Expedition in den Schacht aufgebrochen. In dem Schacht gab es aber außer kahlen Wänden überhaupt nichts zu sehen: Er verlief nur etwa viertausend Schritte unterirdisch, mü ndete in einen anderen Baanhof und endete kurz dahinter an einer Geröllhalde.
    Ging man hundert Schritte über den gefliesten Baanhofsboden, kam man an eine schneeverwehte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher