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06 - Ein echter Snob

06 - Ein echter Snob

Titel: 06 - Ein echter Snob
Autoren: Marion Chesney
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schaute auf, als Jenny das
Zimmer betrat, und wünschte wieder einmal, dass das Mädchen nicht ganz so
hinreißend schön wäre. Lady Letitia ertappte sich bei der Hoffnung, dass auf
dem Ballfest ein Gentleman sein würde, der ihrer launischen Nichte gefiel — ein
Gentleman, der seinerseits aber überhaupt kein Interesse an Jenny zeigte. Was
sie braucht, dachte Lady Letitia, ist jemand, der ihr mal kräftig die Meinung
sagt. Dabei war Jenny nicht etwa herzlos oder unfreundlich. Sie hatte sich nur
ganz offensichtlich an den Gedanken gewöhnt, dass sie viel zu schön für einen
Freier vom hiesigen Landadel sei. Kurz gesagt, sie war eitel.
    Vielleicht hätte ich sie doch nach
London bringen sollen, überlegte Lady Letitia. Dort gibt es so viele schöne
Frauen, und Rivalinnen sind genau das, was ihr fehlt. Aber London ist auch
voll von gewissenlosen Herzensbrechern und leichtsinnigen Taugenichtsen. Mit
einem braven Mann vom Land ist sie viel besser dran.
    »Wie sehe ich aus?« fragte Jenny und
drehte sich vor ihrer Tante im Kreis.
    »Sehr passend für den Anlass«,
antwortete Lady Letitia, die Jennys Selbstverliebtheit nicht noch unterstützen
wollte.
    Jenny lachte. »Ich kann dir aber
auch nie ein Kompliment abringen, liebe Tante.«
    »Es ist bloß gut, dass es wenigstens
einen Menschen auf der Welt gibt, der dich nicht verwöhnt«, sagte Lady Letitia.
»Meinen Mantel, Cooper.«
    Lady Letitia bewohnte einen großen
Herrensitz außerhalb von Barminster. Barminster war ein geschäftiger
Marktflecken an der Hauptstraße von Bristol nach London. Obgleich zahlreiche
Fremde auf ihrem Weg nach London im Gasthaus >Bell< zu übernachten
pflegten, beehrten nur wenige von ihnen die Ballfeste mit ihrer Gegenwart, da
sie viel zu erschöpft von der Reise waren, um daran zu denken, ein ländliches
Tanzvergnügen zu besuchen.
    Nachdem Jenny ihr Schultertuch in
einem Vorzimmer abgelegt und sich in der Halle vor den Flügeltüren, die in den
Ballsaal führten, zu ihrer Tante gesellt hatte, spürte sie eine heftige innere
Erregung in sich aufsteigen, als ob ihr ein Ereignis von großer Tragweite
bevorstünde.
    Sie waren ein bisschen zu spät
gekommen, weil die eitle Jenny ihre Toilette absichtlich in die Länge gezogen
hatte, um einen großen Auftritt zu haben.
    »Guter Gott«, murmelte der Herzog
von Pelham, als Jenny, gefolgt von Lady Letitia, den Saal betrat.
    »Da ist Ihre Dorfschönheit schon«,
flüsterte Fergus hinter dem Stuhl seines Herrn. »Und was für eine Schönheit!«
    »Ich möchte wissen, ob sie weiß, wie
schön sie ist«, sagte der Herzog, dessen Augen immer noch auf Jenny ruhten.
Aber in Jennys Benehmen war nichts, was ihre Eitelkeit verriet, einfach
deswegen, weil sie es noch niemals nötig gehabt hatte, mit einer anderen Frau
in Konkurrenz zu treten.
    Lady Letitias scharfe Augen
richteten sich sofort auf den Herzog von Pelham. Hinter ihrem Fächer verborgen,
flüsterte sie Mrs. Chudleigh, die dem Festkomitee angehörte, zu: »Wer ist
dieser umwerfend gutaussehende Fremde?«
    »Niemand von Bedeutung, das kann ich
Ihnen versichern«, erwiderte Mrs. Chudleigh. »Ein Reisender namens Mr. John.«
    Lady Letitia musterte verstohlen
über den Saal hinweg das schöne, hochmütige Gesicht und flüsterte: »Es
überrascht mich zu hören, dass er ein einfacher >Mister< ist. Ich würde
sagen, er ist es gewohnt, Befehle zu erteilen.«
    »Das mag sein«, sagte Mrs. Chudleigh
und lächelte überlegen. »Sein Diener hat verbreitet, dass sein Herr Captain in
der Armee war, aber kürzlich den Dienst quittiert hat.«
    Jenny, der sich mehrere Freundinnen
angeschlossen hatten, wurde ebenfalls schnell über die Person des schönen
Fremden aufgeklärt.
    »Mama sagt, sie erschießt mich, wenn
ich einen einfachen Captain auch nur anschaue«, kicherte Miss Euphemia Vickers,
eine von Jennys Freundinnen. »Aber er sieht so gut aus und hat so eine
Ausstrahlung.«
    Während eifrig getanzt wurde, begann
sich unter den Gästen eine gewisse Feindseligkeit gegen den »Captain«
auszubreiten, denn er tanzte nicht. Er beobachtete die Tanzenden lediglich
neugierig wie ein Insektenforscher, der das Paarungsverhalten einer seltenen
Art untersucht.
    Da machte sich auf einmal Mr. Sykes,
der Wirt, an Mrs. Chudleigh heran und flüsterte: »Ein gewisser Lord Paul
Mannering ist eben angekommen und wünscht, am Ball teilzunehmen.«
    »Ein Lord!« rief Mrs. Chudleigh.
»Aber selbstverständlich hat er unser Einverständnis. In diesem Fall muss ich
nicht einmal die
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