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051 - Im Orbit

051 - Im Orbit

Titel: 051 - Im Orbit
Autoren: Jo Zybell
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nestelte das Gläschen aus der Brusttasche und schraubte es auf. Seine Finger mussten kaum Kraft aufbringen, trotzdem zitterten sie. Die Würfel, in die sie das Gegenmittel wegen der Schwerelosigkeit gepresst hatten, waren aufgebraucht; nur noch ein weißer Pulverrest bedeckte den Boden des Gläschens. Eine halbe Dosis noch, mehr blieb ihm nicht. Aber um zu schreiben, was er noch zu schreiben hatte, würde es reichen.
    Er leckte den kleinen Finger ab und steckte ihn in das Gläschen. Eine Pulverschicht klebte an der Fingerspitze, als er ihn wieder heraus zog und zum Mund führte. Einzelne Brösel der weißen Substanz lösten sich von seiner Haut und schwebten davon.
    Das Pulver schmeckte bitter. Fahrig tastete er unter der Hülle des geöffneten Raumanzugs hin und her, bis er einen durchsichtigen Schlauch erwischte. Er steckte ihn in den Mund und saugte Wasser aus den Vorratsbeuteln im Rückenteil des Anzugs.
    Sorgfältig verschloss er das Gläschen - ein Etikett mit der Aufschrift »SARI« klebte darauf - und steckte es zurück in seine Brusttasche.
    Mit geschlossenen Augen wartete er. Wohltuende Kälte kroch ihm die Wirbel- säule hinauf bis in den Nacken. Von dort strömte sie in seine Hirnhaut und überzog sein Gehirn wie eine innere Kappe. Bleierne Müdigkeit griff nach ihm, ein Gähnen, das aus dem tiefsten Punkt seines Körpers aufzusteigen schien. Vergeblich wehrte er sich gegen den Schlaf.
    Als er die Augen aufschlug und auf die Zeitangabe in der Fußleiste des Bildschirms blickte, waren fast zwanzig Minuten vergangen. Er drehte sich um.
    Niemand stand mehr hinter dem Trainer, und die Erdscheibe im Sichtfenster brannte und qualmte nicht mehr.
    Wie ein aus sich selbst leuchtender Stern sah die Erde aus, wie eine in leuchtend weiße Glut gehüllte Kugel. Vor siebzehn Monaten, kurz nach dem Einschlag »Christopher-Floyds« hatte er noch erwartet, sie würde sich nach und nach in einen dunklen Schleier hüllen, und eine Zeitlang sah es auch so aus. Aber jetzt ging gleißendes Licht von ihr aus, so grell manchmal, dass es ihn blendete und er kurz die Augen schließen musste. Nur an der Krümmung des sichtbaren Horizonts rahmte eine schwarze Sichel die gleißende Lichtscheibe ein. Dorthin gelangte kein Sonnenlicht mehr, das von der dichten Atmosphäre reflektiert werden konnte. Dort zog schon die Nacht auf.
    Am 8. Februar 2012 hatte der Mann zum letzten Mal Küstenstreifen, Ozeanflächen, Flussläufe, Großstädte und Gebirgsreliefs dort unten gesehen.
    Seitdem verhüllte die Lichtdecke seinen Heimatplaneten. Ein strahlendes Leichentuch. Was sich darunter verbarg, wusste er nur aus Computeranimationen und Messdaten, die ihm der Bordrechner Tag für Tag lieferte.
    Er wandte sich vom Sichtfenster ab, legte die Finger auf die Tasten und setzte den Cursor noch einmal an den Beginn des Textes.
    14. Juli 2013. Chronologie der letzten ISS-Crew, korrigierte er.
    Und: Vorläufig letzter Eintrag.
    Er betrachtete dieses eine Wort - vorläufig - und lächelte. Es gefiel ihm sehr. Und es machte ihm Mut. »Weiß ich denn, ob unter Licht und Staub nicht doch noch Menschen leben?«, murmelte er.
    Es ist vorbei. Ich kann nicht mehr. Heute werde ich sterben.
    Schweigend las er die drei Sätze, und diesmal fühlte er, dass sie mit ihm zu tun hatten, dass er von sich selbst schrieb. Scharf sog er die Luft durch die Nase ein. Sie roch ein wenig modrig. Aber vielleicht spielten ihm auch seine entzündeten Atemwege einen Streich. Oder seine Nerven. Modriger Geruch - passte das nicht zu seinen Eingangssätzen für den letzten Eintrag? Seine Finger flogen über die Tasten.
    Ich hab gewusst, dass der Tag kommen würde. Seit ich die Atlantis II wegfliegen sah, seit sie uns hier zurück ließen. Eigentlich wundere ich mich, so lange durchgehalten zu haben.
    Genug jetzt. Das Fieber quält mich und die Knochen tun mir weh. Nur noch eine knappe Dosis SARI im Glas, und von den Vorräten bin ich abgeschnitten. Wahrscheinlich hab ich den Geosiphon inzwischen auch ins Transhab-Modul eingeschleppt; und dann diese Einsamkeit, diese verfluchte Einsamkeit. Sie drückt mir die Luft ab, sie versteinert mich von innen, wuchert wie Distelgestrüpp in meinem Hirn.
    Schluss jetzt.
    Es fällt mir nicht schwer zu sterben.
    Nicht annähernd so schwer wie es mir fällt, diese Zeilen zu schreiben. Sie kosten mich Kraft. Sie verlangen mir Hoffnung ab, die ich nicht mehr aufbringe. Wer soll all das lesen? Weiß der Henker, warum ich trotzdem weitermache. So bin ich
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