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035 - Das Wachsfigurenkabinett

035 - Das Wachsfigurenkabinett

Titel: 035 - Das Wachsfigurenkabinett
Autoren: Neal Davenport
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bäumten sich auf und hüllten sie ein. Dann gab der Boden nach, und die Figuren zerrannen.
    Endlich hatte sie den Eingang des Klubs erreicht und blieb erschöpft vor der Kasse stehen. Zwei Jugendliche verhandelten mit Joe wegen der Mitgliedskarte; die fünfzig Pence Eintritt waren ihnen zuviel, sie drehten sich um und warfen Miriam einen Blick zu.
    Joe kam aus der Kasse heraus und blieb neben Miriam stehen.
    »Was hast du, Mädchen?« fragte er.
    Joe war ein kleiner, immer freundlicher Neger.
    Miriam schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war bleich, die Augen glänzten fiebrig.
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie keuchend und griff mit der rechten Hand an ihre Brust. »Es ist so seltsam. Ich sehe Schatten, überall Schatten. Sie verfolgen mich.«
    »Du solltest mal ausspannen«, sagte Joe lächelnd.
    »Geht nicht«, sagte Miriam. »Das ist nicht im Vertrag vorgesehen.«
    Sie ging an Joe vorbei auf die Wendeltreppe zu, die ins Innere des Klubs führte. Von drinnen hörte sie laute Musik, das Lachen von Männern, und die Stimme von Henry.
    »Zieh dich aus, Puppe! Ja, so ist es gut, Rita.«
    Miriam blieb sekundenlang stehen und schloß die Augen. Ich halte es nicht mehr aus, sagte sie sich. Ich halte es einfach nicht mehr aus.
    Sie stieg die Treppe weiter hinunter und ging langsam durch die dichten Rauchschwaden zur Garderobe. Nebenbei warf sie einen kurzen Blick zur Bühne. Die rothaarige Stripperin wandte dem Publikum gerade den Rücken zu und nestelte an ihrem Büstenhalterverschluß herum.
    »Mach schon, Süße!« hörte Miriam wieder die heisere Stimme Henrys.
    Miriam drehte den Kopf zur Seite und sah das Publikum kurz an. Vielleicht fünfzehn Männer saßen auf den ausgedienten Kinosesseln und tranken Tee oder eine Cola; alkoholische Getränke wurden nicht ausgeschenkt, da der Klub keine Lizenz dafür hatte.
    Tief bin ich gesunken, dachte Miriam. Tag für Tag sah sie diese Gesichter, Gesichter von Männern, die ein halbes Pfund gezahlt hatten und dafür mittelmäßige Darbietungen von abgetakelten Stripperinnen vorgesetzt bekamen.
    Sie griff nach der Türklinke, und ihr schwindelte. Die Klinke bewegte sich. Miriam schloß die Augen. Als sie sie wieder öffnete, bewegte sich die Klinke nicht mehr.
    Sie stieß die Tür auf und taumelte den schmalen Gang entlang, der zu den Garderoben führte. Max kam ihr entgegen. Sein rotes Gesicht glänzte.
    »Mach schon, Miriam!« fauchte er. »Rita ist gleich mit ihrem Auftritt fertig.«
    Das Mädchen nickte, schlüpfte aus dem Mantel und setzte sich vor den Spiegel. Sie nahm das Kopftuch ab und kämmte das schulterlange, weißblond gefärbte Haar, hatte aber Angst dabei, in den Spiegel zu sehen. Seit einigen Tagen hatte sie den Eindruck, der Spiegel wolle sie fressen; es war, als würde sie ein unsichtbarer Sog in den Spiegel hineinziehen.
    Irgendwo tropfte ein Wasserhahn. Die Musik war nur schwach zu hören. Sie stand auf und blieb vor dem Waschbecken stehen. Der Wasserhahn wurde länger und dicker. Ein Wassertropfen löste sich und plumpste ins Becken. Er kullerte die gebogene Fläche hinunter und änderte die Farbe. Plötzlich war es ein roter Blutstropfen, der im Abfluß verschwand. Immer mehr Tropfen fielen ins Becken; große, schwere Blutstropfen. Dann war der Abfluß plötzlich verstopft. Blut füllte das Becken, quoll über den Rand und rann auf den Boden.
    Miriam schloß die Augen. Ihr Körper zitterte. Sie trat einen Schritt zurück und stöhnte.
    »Mach schon!« brüllte Max. »Rita ist fertig.«
    Miriams Lippen bebten. Sie schlug die Augen auf. Die Musik war lauter geworden. Kein Blut war im Waschbecken zusehen.
    Mühsam verließ sie die Garderobe. Rita kam ihr entgegen, sie hatte einen dünnen Morgenrock übergeworfen.
    »Ein fader Betrieb heute«, sagte Rita. »Was hast du, Miriam?«
    »Mir ist nicht gut«, sagte das Mädchen und ging hinter die Bühne. Jede Nacht zog sie sich hier sechsmal aus, und in zwei anderen Lokalen ebenfalls sechsmal. Das war üblich in den billigen Klubs in Soho.
    »Na endlich!« seufzte Max. »Mit euch Mädchen mach ich vielleicht was mit! Raus mit dir!«
    ,I can’t get no satisfaction’, grölten die Rolling Stones.
    Miriam konnte die Nummer nicht mehr hören, aber auf dem Song war ihr Programm aufgebaut. »Und nun meine Herrschaften«, hörte sie Henrys Stimme, »kommt die süße Miriam.«
    Das Mädchen schob den Vorhang zur Seite und trat auf die Bühne. Das Publikum reagierte wie immer: gelangweilt.
    Sie versuchte zu lächeln, doch es
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