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0106 - Hügel der Gehenkten

0106 - Hügel der Gehenkten

Titel: 0106 - Hügel der Gehenkten
Autoren: Jason Dark
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treibt man keine Späße«, belehrte ihn die Alte. »Ich war eben geschützt. Ich habe mir mein altes Holzkreuz genommen und es vor die Brust gehängt. Und ich habe mir die Hände mit Salben und Kräutern eingerieben, damit sie nicht von dem Bösen angesteckt wurden. Aber du bist nackt, du gehst ohne Schutz, und dann wird dich das Grauen vernichten.«
    »Ich zittere jetzt schon«, erwiderte Gulliver.
    »Dir ist wohl nicht zu raten.« Die Alte hob die mageren Schultern. Mit ihren eingefallenen Wangen sah sie wirklich aus wie eine Hexe aus dem späten Mittelalter. Hinzu kam das spitze Kinn und der zahnlose Mund. Fehlte nur noch die Warze auf der langen Nase. »Was sagt ihr denn dazu?« wandte sie sich an die Stammtischrunde.
    Die Männer hoben die Schultern.
    »Soll er doch«, meinte der größte Hammelzüchter des Ortes. »Soll er gehen und sich den Tod holen. Wir suchen schon ein Grab für ihn aus.«
    »Aber nicht auf dem heiligen Friedhof!« konterte die Hexe. »Er wird im Hügel der Gehenkten verscharrt wie ein räudiger Hund.«
    Gulliver O’Flynn grinste. »All right, Freunde«, sagte er. »Ihr könnt ja solange diskutieren. Wenn ich wieder zurückkomme, sagt mir dann, wo ich begraben werden soll.«
    »Spotte nicht«, warnte die Alte.
    »Ich gehe auf jeden Fall.« O’Flynn nickte entschlossen und schritt auf die Garderobehaken zu, um seine Jacke zu nehmen. Draußen war es kühl. Von den Bergen her fiel ein steifer Wind in die Täler.
    Gestern hatte es noch gewittert und gehagelt, der Winter wollte einfach nicht weichen.
    Der Student warf sich seine Jacke über.
    In dem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen. Sie quietschte in den Angeln, deshalb hörte jeder der Anwesenden das Geräusch.
    Auf der Schwelle stand – der Mann aus dem Wohnwagen!
    Plötzlich verstummte jedes Geräusch.
    Die alte Kullina bekreuzigte sich hastig und zog sich bis an die Theke zurück.
    Automatisch drehten sich die Köpfe dem Ankömmling entgegen, der dicht vor der Schwelle stehengeblieben war.
    Der Mann bot einen unheimlichen Anblick.
    Er trug einen langen grauen Mantel, dessen Kragen er hochgestellt hatte. Bis zum Kinn war der Mantel zugeknöpft, und unter seinem Saum schauten dunkle Hosenbeine hervor. Die Füße steckten in abgetretenen Schuhen, das dunkle Haar glänzte wie das Gefieder eines Raben. Von dem Gesicht war nicht viel zu erkennen.
    Eine Brille mit schwarzen, kreisrunden Gläsern bedeckte die Augen, das Kinn floh nach hinten weg, der Mund war kaum zu sehen. In der rechten Hand hielt der Mann einen weißen Stock. Kein Zweifel, er war blind.
    Langsam ging er vor. Bei jedem Schritt schlug der Stock auf den Boden und beschrieb einen gleichmäßigen Takt.
    »Guten Abend«, grüßte der Blinde. Seine Stimme klang gehetzt und rauh.
    Keiner erwiderte seinen Gruß. Auch nicht O’Flynn. Die Männer starrten nur auf den Blinden.
    Es war für alle eine Überraschung, denn bisher hatten sie nicht gewußt, wer in dem Wagen wohnte. Und daß er leer war, konnte sich keiner vorstellen.
    In der Mitte der Gastwirtschaft blieb er stehen. Direkt unter der kreisrunden schmiedeeisernen Lampe, deren Schalen ihr weiches Licht auch über den Stammtisch warfen.
    Der Bürgermeister faßte sich ein Herz. Er stand auf und sprach den Blinden an. »Sie sind bestimmt der Mann aus dem Zigeunerwagen?« fragte er.
    »Ja.«
    »Und was wollen Sie hier?«
    »Ich… ich möchte etwas zu essen haben.«
    Der Blinde hatte die Worte gesprochen, doch niemand rührte sich. Bis der Wirt sagte: »Zigeuner kriegen von mir nichts!«
    Der Blinde zuckte zusammen. »War das Ihr letztes Wort?«
    »Ja.«
    »Es ist gut. So habe ich euch eingeschätzt. Ihr laßt einen Menschen verkommen, der hungrig ist, obwohl ihr jeden Sonntag in die Kirche geht und zu eurem Gott betet.«
    »Zu wem beten Sie denn?« rief der Bürgermeister. »Vielleicht zum Teufel?«
    »Möglich.«
    »Hau ab!« schrie der Wirt. »Los, hau endlich ab. Und morgen früh wollen wir dich mit deinem verdammten Wagen hier vor dem Dorf nicht mehr sehen, sonst stecken wir ihn an!«
    »Ja, er ist ein Teufel!« flüsterte die alte Kullina. »Ich merke es jetzt deutlich. Ich spüre die Ausstrahlung. Er ist gefährlich. Höllisch gefährlich…«
    Wieder wurde die Tür aufgestoßen. Und wieder betrat eine fremde Person die Gaststätte.
    Doch diesmal war es ein Mädchen.
    Die Augen des jungen Studenten wurden groß. Es traf ihn wie ein Schlag. Dieses Girl mußte er haben. Es war schön und…
    Seine Gedanken stockten. Er
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