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0071 - Mit der letzten Kugel

0071 - Mit der letzten Kugel

Titel: 0071 - Mit der letzten Kugel
Autoren: Mit der letzten Kugel
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Jahrzehnten gewohnt war.
    Am Sonntagmorgen betrat er nach der Frühmesse den Beichtstuhl, um sich die Verfehlungen seiner Mitmenschen anzuhören. Er war längst über das Alter hinaus, da er sich noch über irgendetwas gewundert hätte. Höchstens wunderte er sich gelegentlich darüber, dass Gott eine Welt, in der es soviel Schlechtigkeit gab, nicht längst mit einem Zucken seines kleinen Fingers ins Nichts zurückgejagt hatte, aus dem er sie geschaffen.
    Aber diesen Gedanken wies er immer wieder von ich, so oft er ihn auch hatte. Was Gott in seiner Gnade leben lässt, sollte wohl auch für dich nicht zu schlecht sein, um es darin aushalten zu können, warnte er sich selbst.
    So wenig Father Baseman sich noch wundern wollte, an diesem Morgen tat er es doch. Denn wer als erster den Beichtstuhl betrat, war ein Mann, den er seit ungefähr sechzehn Jahren nicht mehr in der Kirche gesehen hatte, obgleich er die Kirche eigentlich genau vor dem Haus hatte. Denn Mister Harway wohnte ja genau gegenüber den San Sebastian Cathedral in der Baker Street.
    »Gelobt sei Jesus Christus«, sagte Father Baseman, und er sagte es mit einer besonderen Betonung.
    Dann stutzte er. Dass Mister Harway überhaupt in die Kirche kam, war an sich schon ein Wunder. Dass er aber unrasiert war, tief in den Höhlen liegende Augen hatte und sehr unkorrekt angezogen war, das grenzte ans Unfassbare. Denn Mister Harway war der vierunddreißigjährige Sprössling einer der ältesten Familien New Yorks. Seit dem Tod seines Vaters war er gleichzeitig der Alleininhaber des Harway-Schuh-Fabriken-Konzerns und der Besitzer von sechzig bis siebzig Schuhläden in der ganzen City und in den benachbarten Städten. Man durfte vermutlich ohne Übertreibung sagen, dass jedes dritte Paar Schuhe, das über den New Yorker Asphalt ging, aus Harways Fabriken gekommen war.
    »Fühlen Sie sich nicht wohl, Mister Harway?«, fragte Father Baseman anteilnehmend. Denn wenn er den Mann auch selten in der Kirche sah, so war es doch kein Grund für ihn, einem offenbar kranken Menschen seine Anteilnahme zu verweigern.
    »Ich - ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan«, krächzte Harway und sank in die Knie. Er lehnte den Kopf gegen die Gittertrenny/and des Beichtstuhles und atmete heftig.
    Father Baseman sah, dass ihm kleine Schweißperlen auf der Stirn standen. Dabei war es morgens kurz nach sieben und ziemlich kühl, denn es herrschte ein sehr nebliges Wetter.
    »Haben Sie Sorgen, Mister Harway? Sprechen Sie sich aus. In diesem Haus können Sie über alles sprechen.«
    Harway nickte.
    »Ja. Ich weiß. Nur, es ist sehr schwierig.«
    »Vielleicht kann ich Ihnen trotzdem folgen, Mister Harway. Ich bin zwar nicht sehr weise, aber ich bin dafür sehr alt. Und ich habe in meinem langen Leben schon so vieles gehört.«
    Harway tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
    »Wir wissen nicht aus noch ein«, sagte er heiser. »Meine Frau ist einem Nervenzusammenbruch nahe. Ich selbst friere und schwitze gleichzeitig.«
    »Erzählen Sie mir alles«, sagte Father Baseman, und seine Stimme hatte den gütigen Klang, mit dem er weinende Kinder würde trösten wollen.
    Wieder nickte Harway. Gedankenlos griff er nach der Zigarettenschachtel, hielt aber mitten in der Bewegung inne und besann sich, an welchem Ort er sich befand. Er schob die Packung zurück in seine Hosentasche.
    »Es ist nämlich«, begann er, brach aber gleich wieder ab, während ein trockenes Schluchzen seine Kehle würgte. »Kennen Sie Lisabell?«, stieß er krächzend hervor.
    »Sie meinen Ihr Töchterchen, nicht wahr? Es ist ein reizendes Kind«, lächelte Father Baseman versonnen, denn er war ein Kinderfreund. »Ich mag Ihre Tochter sehr gern. Leider habe ich viel zu wenig Zeit, sie durch meinen Garten zu führen. Sie wissen ja sicher, dass Lisabell gern durch meinen Garten geht, nicht wahr?«
    »Natürlich. Sie erzählte mir abends immer davon, wenn ich aus dem Office nach Hause kam«, murmelte Harway. Und sehr erstaunt bemerkte Father Baseman, dass der gewiss nicht weichliche Geschäftsmann haltlos vor sich hin weinte.
    Der Priester neigte den Kopf vor, bis auch seine Stirn das trennende Gitter traf. Mit beruhigender Sanftmut sagte er halblaut: »Sprechen Sie sich aus, Mister Harway. Sie werden sehen, dass es Ihnen hilft!«
    »Ja!«, stieß Harway hervor. »Natürlich, Father. Deswegen bin ich ja auch zu Ihnen gekommen. Bitte, sagen Sie nicht, ich hätte mich doch sonst nicht um die Kirche gekümmert. Mein Geschäft frisst
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