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0026 - Die Braut des Henkers

0026 - Die Braut des Henkers

Titel: 0026 - Die Braut des Henkers
Autoren: Michael Kubiak
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»Hexe!«
    Vielstimmig und voller Wut gellte der Schrei über den Dorfplatz.
    Die gesamte Einwohnerschaft der kleinen Ortschaft Coryhead hatte sich auf dem Marktplatz versammelt. Sie bildete einen undurchdringlichen Ring um den riesigen Scheiterhaufen, der unweit der alten Eiche mitten auf dem Platz aufgeschichtet worden war. »Hexe! Hexe! Hexe!« Wieder und wieder ertönte der Ruf. Der Wind riss die Worte von den Lippen der Leute, schleuderte sie gegen die Mauern der niedrigen Häuser und warf sie weit hinaus in die trostlose Landschaft.
    Wolkenfetzen jagten über den Himmel. Riesige graue Gebilde türmten sich am Firmament auf und zerstoben in wallende Schleier, um sich zu neuen Phantasiegestalten zusammenzufinden.
    Es war die Zeit der Herbststürme. Hier an der nördlichen Küste von Wales tobten sie immer mit urtümlicher Gewalt, peitschten die Wogen der Irischen See gegen den Strand, und niemand wagte es zu dieser Jahreszeit, ohne triftigen Grund die schützende Wärme seiner Behausung zu verlassen.
    Doch jetzt hatte man sich versammelt, jetzt, heute an einem trüben Nachmittag des Jahres 1625.
    »Hexe! Hexe!«
    Die wilde Gier brannte in den Augen der Menschen, die wilde Gier, endlich Blut zu sehen. Das Blut einer Frau, einer Unschuldigen. Doch in ihrem Wahn, in ihrer Besessenheit, verschwendeten die Schreier keinen Gedanken an diese Frage. Wer gab ihnen das Recht, eine aus ihrer Mitte zu verfluchen?
    Flehend hatte die junge Frau, die man an den Pfahl gefesselt hatte, der aus dem Scheiterhaufen aufragte, die Augen zum Himmel erhoben. Bildhübsch war sie. Auch, oder vielleicht gerade wegen ihres ärmlichen schwarzen Gewandes, das ihr die Mitbürger übergestreift hatten. Ihr Gesicht war totenblass. Ihre Lippen zitterten. Die Angst presste ihr Herz zusammen, und erregt hob und senkte sich ihr Busen.
    Als wäre es ein willkommenes Spielzeug, so zauste der heftige Wind ihr strohblondes Haar. Wie ein Banner wehte es um ihren Kopf.
    Die Umstehenden jedoch hatten keinen Blick für die unschuldige Schönheit des Mädchens. Für sie war sie eine Hexe, ein verdammungswürdiges Geschöpf.
    Ihr war es zuzuschreiben, dass das Vieh in den Ställen verendete, dass eine Springflut den Küstenstreifen heimgesucht und viele Menschen um ihre Habe gebracht hatte. Auch sagte man ihr den bösen Blick nach. Wen sie anschaute, der war verflucht, besessen. Besonders die Männer. Darum schrien die Frauen des Dorfes auch am lautesten.
    Nein, von ihnen hatte sie keine Gnade zu erwarten.
    Sie war neunzehn Jahre alt und Vollwaise. Ihren Vater hatte sie nie kennen gelernt. Ihre Mutter war kurz nach ihrer Geburt gestorben.
    Der Pfarrer hatte sich ihrer angenommen und sie auf den Namen Jennifer getauft. Wie ein eigenes Kind hatte er sie großgezogen.
    Als sie zu voller Schönheit erblüht war, konnte er ihren Reizen nicht mehr widerstehen. Er hatte nach seiner Freveltat dafür gesorgt, dass man sie Hexe schimpfte.
    Wie er dazu gekommen war, wusste er nicht zu sagen. In ihm war nur plötzlich eine Stimme gewesen, die ihn dazu getrieben hatte.
    Und nun stand er inmitten seiner Gläubigen und schwang das Kreuz, um diese Satansdienerin unschädlich zu machen.
    Am wenigsten hatten die Dorfbewohner eine Erklärung für ihr Verhalten. Sie alle waren rechtschaffene Menschen, die keinem etwas zu Leide tun konnten. Sie alle hatten Jennifer gut gekannt und sehr gern gemocht. Sie war immer freundlich und hilfsbereit gewesen, hatte für jeden ein freundliches Wort gehabt.
    Diese Zeit schienen sie im Augenblick vergessen zu haben. Eine unheimliche Macht hatte von ihnen Besitz ergriffen, hatte ihre menschlichen Regungen ausgelöscht und trieb sie zu einer schrecklichen Tat.
    Die Menge teilte sich plötzlich. Unruhe entstand. Die Köpfe fuhren herum, blickten in eine Richtung.
    Augenblicklich war auch das Geschrei verstummt. Nur der Wind fuhr pfeifend durch die Äste, die bald schon in hellen Flammen aufgehen sollten.
    Das Mädchen auf dem Scheiterhaufen durchzuckte ein eisiger Schreck. Gehetzt schaute sie sich um. Ihr Blick blieb an der Gestalt hängen, die sich durch eine Gasse aus Menschenleibern dem Scheiterhaufen näherte.
    Erst konnte sie nichts erkennen. Aber sehr schnell begriff ihr Gehirn, was ihre Augen nicht wahrhaben wollten.
    Die schwarze Pumphose! Das rote Wams! Die rote Kapuze! Es war der Henker!
    Alle in der Gegend zitterten vor ihm. Denn wo er auftauchte, musste wieder jemand sein Leben lassen, jemand, von dem behauptet wurde, er wäre vom
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